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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Boethius von Dakien: Über die Ewigkeit der Welt (p. 142f., 146f.)

Original:

Boethius von Dakien (fl. um 1270) bemüht sich, die Unentscheidbarkeit der Frage nach der Ewigkeit der Welt als philosophisches Projekt nachzuweisen
[1] Quia naturalis solum considerans virtutes causarum naturalium dicit mundum et motum primum non esse novum ex eis, fides autem christiana considerans causam superiorem quam sit natura dicit mundum posse esse novum ex illa, ideo non contradicunt in aliquo. […]
[2] Ex his quae dicta sunt componitur syllogismus.
[3] (a) Nulla est quaestio cuius conclusio potest ostendi per rationem, quam philosophus non debet disputare et determinare, quantum per rationem est possibile […].
(b) Nullus autem philosophus per rationem potest ostendere motum primum et mundum esse novum, quia nec naturalis nec mathematicus nec divinus […].
(c1) Ergo per nullam rationem humanam potest ostendi motus primus et mundus esse novus.
(c2) Nec etiam potest ostendi quod sit aeternus, quia qui hoc demonstraret deberet demonstrare formam voluntatis divinae, et quis eam investigabit?

Quelle: Boethius von Dakien: Über die Ewigkeit der Welt /De aeternitate mundi (p. 142f., 146f.).
Edition: Über die Ewigkeit der Welt: Bonaventura, Thomas von Aquin, Boethius von Dacien. Mit einer Einl. von Rolf Schönberger. Übers. und Anm. von Peter Nickl. Frankfurt am Main: Klostermann 2000.

Auslegung:

Hier behandelt Boethius von Dakien das Problem der Ewigkeit der Welt. Dabei zeigt er sich von der erkenntniskritischen Herangehensweise des Maimonides beeinflusst (Zitat Nummer 477), findet aber doch eigene Formulierungen. In [1] wird zunächst der Gegensatz von der naturphilosophischen Argumentation dafür, dass die Welt ewig ist (Zitat Nummer 663) und der christlich-theologischen Erklärung erläutert, dass die Welt einen Anfang hat. In [3] erläutert er, warum die Annahme eines Konfliktes zwischen diesen beiden Positionen auf einem methodischen Missverständnis besteht: Während der Naturphilosoph alle rational überprüfbaren Fragen untersuchen muss, kann er über gewisse Punkte jenseits dieser Ordnung keine rational begründeten Aussagen treffen. So kann er weder begründen, dass die Welt neu erschaffen ist – denn dazu müsste er den transzendenten göttlichen Willen begreifen –, noch die Ewigkeit der Welt notwendig begründen, denn auch dies müsste anhand des göttlichen Willens bestehen. Insofern erweist sich vor dem Hintergrund einer abstrakten Analyse von Möglichkeiten wissenschaftlicher Analyse, dass die philosophischen Argumente die Frage nicht entscheiden können. Diese Lösung unterscheidet sich von der der arabischen Denker im Wesentlichen dadurch, dass Boethius von Dakien den göttlichen Willen als die Ursache der Welt als schlechthin unbegreifbar versteht. Dies wird z.B. bei Maimonides keineswegs so klar vorausgesetzt, sondern hier wird die Unmöglichkeit eines Beweises mit vernunftinternen Grenzen der Argumentation begründet. Das Argument unseres Textes zeigt demgegenüber einen stärkeren Einfluss der neuplatonischen und christlichen Lehre von der Transzendenz und Unerkennbarkeit Gottes, die in Boethius’ Augen eine Analyse des göttlichen Willens schlechthin verbietet.

Themen:

  • Mittelalterliche Philosophie
  • Christentum und Philosophie
  • Ewigkeit der Welt
  • Judentum und Islam
  • Kausalität
  • Kritik/Kritikfähigkeit
  • Philosophie und Religion
  • Theologie (rationale/philosophische)
  • Wissenschaft(stheorie)

[1] Nun sagt der Naturphilosoph nur aufgrund der Betrachtung der Kräfte der natürlichen Ursachen, die Welt und die erste Bewegung seien aus ihnen heraus nicht neu. Der christliche Glaube sagt aber aufgrund der Betrachtung einer höheren Ursache als die Natur, die Welt könne aus ihr heraus neu sein. Daher widersprechen sie sich in nichts.
[2] Und aus dem Gesagten lässt sich ein Syllogismus aufstellen:
[3] (a) Es gibt keine Frage, deren schlüssige Beantwortung durch die Vernunft gezeigt werden kann, die der Philosoph nicht erörtern und entscheiden darf, soweit das durch die Vernunft möglich ist. […]
(b) Kein Philosoph aber kann durch die Vernunft zeigen, dass die erste Bewegung und die Welt neu sind, weil es […] weder der Naturphilosoph noch der Mathematiker noch der Theologe kann.
(c1) Also kann durch keine menschliche Vernunft gezeigt werden, dass die erste Bewegung und die Welt neu sind.
(c2) Es kann aber auch nicht gezeigt werden, dass sie ewig sind. Denn wer das bewiese, müsste die Form des göttlichen Willens beweisen – aber wer sollte ihn erforschen?


Übersetzer: Nickl, leicht geändert von Matthias Perkams

Quelle: Über die Ewigkeit der Welt: Bonaventura, Thomas von Aquin, Boethius von Dacien. Mit einer Einl. von Rolf Schönberger. Übers. und Anm. von Peter Nickl. Frankfurt am Main: Klostermann 2000. p. 142f., 146f.