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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Augustinus von Hippo: Bekenntnisse 11, 36-38

Original:

Augustinus erklärt die Zeit als die Ausdehnung unseres Geistes
[1] In te, anime meus, tempora metior. [...] Quis igitur negat futura nondum esse? Sed tamen iam est in animo expectatio futurorum. Et quis negat praeterita iam non esse? Sed tamen adhuc est in animo memoria praeteritorum. Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? Sed tamen perdurat attentio, per quam pergat abesse, quod aderit. [...]
[2] Dicturus sum canticum, quod novi: antequam incipiam, in totum expectatio mea tenditur, cum autem coepero, quantum ex illa in praeteritum decerpsero, tenditur et memoria mea, atque distenditur vita huius actionis meae in memoriam, propter quod dixi, et in expectationem, propter quod dicturus sum. [...] Et quod in toto cantico, hoc in singulis particulis eius fit atque in singulis syllabis eius.

Quelle: Augustinus von Hippo: Bekenntnisse /Confessiones (conf.) 11, 36-38.
Edition: Sancti Aurelii Augustini Confessionum libri XIII. Quos post M. Skutella iterum edidit L. Verheijen. Editio altera (CCL 27), Turnhout 1990.

Auslegung:

Dieser Text ist eine kurze Zusammenfassung von Augustinus’ wohl berühmtester philosophischer Position. Diese besteht in seiner Erklärung der Zeit als einer Aufspaltung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welche sich in meinem Geist vollzieht (distentio animi). Denn zwar ist auch im Geist die Vergangenheit vergangen und die Zukunft noch nicht da, aber im Modus der Erinnerung ist die Vergangenheit im Geist noch präsent, ebenso wie die Zukunft noch im Modus der Erwartung. Insofern ist der menschliche Geist der eigentliche Ort der Zeit. Das erinnert an Plotins Verortung der Zeit in der Hypostase der Seele (Zitat Nummer 269), aber Augustinus’ Ansatz hebt viel stärker auf die menschliche Subjektivität ab, während die Zeit als ein objektiver Ablauf, der die Veränderungen in der Welt begleitet (so wie Aristoteles sie beschreibt: Zitat Nummer 658; vgl. aber Zitat Nummer 659), keine Rolle mehr spielt. Augustinus’ Zeittheorie wird daher von jeher bewundert und viel zitiert, hat sich aber selbst im von Augustinus stark geprägten Mittelalter viel weniger durchsetzen können als Aristoteles’ Zeit-Theorie.

Themen:

  • Antike Philosophie II
  • Geist
  • Zeit
  • Freiheit
  • Erinnerung/Gedächtnis
  • Subjektivität
  • Vorwissen Gottes

[1] In Dir also, mein Geist, messe ich die Zeiten. [...] Wer bestreitet also, dass Zukünftiges noch nicht ist? Und doch ist im Geist bereits die Erwartung des Zukünftigen. Und wer bestreitet, dass das Vergangene nicht mehr ist? Und doch ist die Erinnerung an das Vergangene noch im Geist. Und wer bestreitet, dass die Gegenwart keine Ausdehnung hat, weil sie im Moment vergeht? Und doch dauert die Aufmerksamkeit an, durch die das, was da sein wird, zum Fort-Sein hin eilt. [...]
[2] Wenn ich ein Lied vorzutragen beginne, das ich kenne, richtet sich meine Erwartung, bevor ich beginne, auf das ganze [Lied]. Habe ich begonnen, dann erstreckt sich auch meine Erinnerung über das, was ich aus jener in die Vergangenheit abgelegt habe. Das Leben dieser meiner Tätigkeit spaltet sich dann auf in die Erinnerung, weil ich bereits vorgetragen habe, und die Erwartung, weil ich noch weiter vortragen werde. [...] Was so mit dem ganzen Lied geschieht, das wiederholt sich mit seinen einzelnen Abschnitten und in seinen einzelnen Silben.

Übersetzer: Matthias Perkams in freier Anlehnung an Flasch