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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Boethius, Anicius Manlius Severinus: Der Trost der Philosophie V, Prosa 6, 6f. 10, 30f

Original:

Eine der berühmtesten Lehren dieses Werks ist Boethius’ Erklärung der Ewigkeit als etwas, was von unendlicher Dauer verschieden ist. Unter dieser Bedingung ist Boethius zufolge freies menschliches Handeln mit der göttlichen Vorsehung vereinbar – und eine der großen Fragen des christlichen Denkens gelöst
[1] Quod igitur temporis patitur condicionem, licet illud, sicuti de mundo censuit Aristoteles, nec coeperit umquam esse nec desinat [...], nondum tale est, ut aeternum esse iure credatur. Non enim totum simul [...] comprehendit atque complectitur, sed futura nondum, transacta iam non habet. [...] Aliud est enim per interminabilem duci vitam [...], aliud interminabilis vitae totam pariter complexum esse praesentiam, quod divinae mentis proprium esse manifestum est.
[2] Si quid providentia praesens videt, id esse necesse est, tametsi nullam naturae habeat necessitatem. Atqui Deus ea futura quae ex arbitrii libertate proveniunt praesentia contuetur; haec igitur, ad intuitum relata divinum, necessaria fiunt per condicionem divinae notionis, per se vero considerata ab absoluta naturae suae libertate non desinunt.

Quelle: Boethius, Anicius Manlius Severinus: Der Trost der Philosophie /Consolatio philosophiae (cons.) V, Prosa 6, 6f. 10, 30f.
Edition: Boethius, De consolatione philosophiae. Opuscula theologica. Edidit C. Moreschini, München 2000.

Auslegung:

Diese Passage aus den letzten Abschnitten des „Trosts der Philosophie“ stellt eine der bedeutendsten Erklärungen zum Verhältnis von Zeit und Ewigkeit dar. Für die Beschreibung der Zeit verweist Boethius zum einen auf Aristoteles und die Ewigkeit der Welt, die er, anders als sein ebenfalls christlicher Zeitgenosse Johannes Philoponos (Zitat Nummer 304), nicht ablehnt. Zum anderen scheint er mit der pointierten Unterscheidung der Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft auf Augustinus‘ „Bekenntnisse“ anzuspielen, den er aber nicht namentlich nennt (Zitat Nummer 299). Ähnlich wie Augustinus scheint er auch zu meinen, dass die Zeit wesentlich von einem Geist erkannt wird. Hierin unterscheidet sich aber der menschliche vom göttlichen Geist: Denn für den göttlichen Geist gibt es gerade keinen Unterschied von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern für ihn ist jeder Zeitpunkt in gleichem Maße gegenwärtig. Denn die Ewigkeit kennt eben kein Vorher oder Nachher – anders als eine unendliche Dauer –, sondern bedeutet einen ganz anderen, jeder Veränderung enthobenen Standpunkt. Genau dieser wird im strengen Sinne „Ewigkeit“ genannt. Für diese Unterscheidungen greift Boethius wiederum auf neuplatonische Gedanken zurück, die sich etwa bei Plotin (Zitat Nummer 269) und Proklos finden (Zitat Nummer 281 und 857), aber er ist viel prägnanter als diese, weil er nur zwei Aspekte vergleicht: die vergängliche Zeit und die Ewigkeit, die gerade nicht vergeht und für die alle Zeitpunkte gleich sind. Bei Boethius wird die Gleichzeitigkeit der göttlichen Ewigkeit zu allen Zeitpunkten zugleich eine Ermöglichungsbedingung der menschlichen Freiheit trotz göttlicher Allwissenheit (vgl. Zitat Nummer 563 und 612): Gott weiß eine menschliche Handlung nicht im Voraus, sondern quasi gleichzeitig aus dem Moment der Ewigkeit heraus.

Themen:

  • Antike Philosophie II
  • Aristoteles
  • Ewigkeit
  • Freiheit
  • Wege des Ich
  • Gott
  • Neuplatonismus
  • Zeit
  • Vorwissen Gottes

[1] Was also dem Modus der Zeit unterliegt, selbst wenn es, wie Aristoteles von der Welt glaubte, weder begonnen hat noch enden wird, [...] ist noch nicht so, dass es zu Recht als ewig verstanden werden kann. Denn es umfasst nicht das Ganze zugleich [...], sondern hat das Zukünftige noch nicht, das Vergangene nicht mehr. [...] Denn es ist eine Sache, durch ein unendliches Leben geführt zu werden [...], eine andere, die gesamte Gegenwart des unendlichen Lebens gleichermaßen zu umfassen, was klarerweise dem göttlichen Geist eigentümlich ist.
[2] Wenn die Vorsehung etwas Gegenwärtiges sieht, gibt es dies notwendigerweise, obwohl es keine Naturnotwendigkeit besitzt. Aber Gott betrachtet das Zukünftige, was aus der Freiheit der Entscheidung hervorgeht, als etwas Gegenwärtiges. Dies geschieht also bezogen auf den göttlichen Blick notwendig, im Modus der göttlichen Erkenntnis, verliert aber in sich selbst betrachtet die losgelöste Freiheit der eigenen Natur nicht.

Übersetzer: N.N.