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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Al-Fārābī : Buch der Buchstaben § 108. 110 (p. 131, 4-9; 132, 7f. Mahdi)

Original:

Al-Fārābī über das Verhältnis der verschiedenen Formen der Philosophie zur Religion
ولما كان سبيل البراهين أن يُشعَر بها بعد هذه لزم أن تكون القوى الجدلية والسوفسطائاة والفلسفة المظنونة أو الفلسفة المموّهة تقدمت بالبزمان الفلسفة اليقينية’ وهي البرهانية. والملّة إذا جُعلت إنسانية فهي متأخّرة بالزمان عن الفلسفة’ وبالجملة’ إذ كانت إنما يُلتمَس بها تعليم الجمهور الأشياء النظرية والعملية التي استُنبطت في الفلسفة بالوجود التي يتأتى لهم فهم ذلك’ بإقناع أو تخييل أو بهما جميعا. ... فالفلسفة بالجملة تتقدّم الملة على مثال ما يتقدم بالزمان المستعمل الآلات الآلات.


Quelle: Al-Fārābī : Buch der Buchstaben /Kitāb al-ẖurūf § 108. 110 (p. 131, 4-9; 132, 7f. Mahdi).
Edition: Abū-Naṣr al- Fārābī, Kitāb al-Ḥurūf. Ḥaqqaqahū wa-qaddama lahū wa-ʿallaqa ʿalaihī Muḥsin Mahdī, Beirut 1970; englische Übersetzung bei Classical Arabic philosophy. An anthology of sources. Translated with introd., notes, and glossary by Jon McGinnis and David C. Reisman, Indianapolis 2007.

Auslegung:

Hier begründet al-Fārābī, der „zweite Lehrer“ der Philosophen im Islam (nach Aristoteles), den Vorrang der Philosophie gegenüber der Religion. Hierfür unterscheidet er verschiedene Philosophien bzw. Argumentationstypen anhand unterschiedlicher Schlussarten des logischen Schlusses (des Syllogismus), die er in Entsprechung zu bestimmten Schriften des Aristoteles formuliert (Zitat Nummer 438). Zwar ist Gott nach seiner Annahme genauso Gegenstand der Philosophie wie der Religion (vgl. Zitat Nummer 439), aber aufgrund der methodischen Überlegenheit der Philosophie erhält diese eine Überlegenheit auch in der Rede von Gott zugesprochen. Sie kann sich nämlich demonstrativer, apodeiktischer Beweise gemäß Aristoteles‘ Schrift Analytica posteriora bedienen, während Philosophien, die auf anderen, weniger sicheren Argumentationstypen beruhen, nur scheinbar Philosophien sind. Menschliche Religion ist aber gegenüber allen diesen Typen des Philosophierens nur eine vermittelnde Instanz, die sich rhetorischer Überredung und des Hervorrufens von Vorstellungen (gemäß der aristotelischen Poetik, wie al-Fārābī meint) bedient. Somit führt die Frage nach der richtigen Rede von Gott zu einer Reflexion über die für Gott zuständigen Wissenschaften. Bei al-Farabi ergeben sich ferner Konsequenzen für das Verhältnis von Philosophie und Theologie, bei denen, anders als etwa bei Thomas von Aquin (Zitat Nummer 52), nun die Philosophie überlegen erscheint (vgl. dazu auch Zitat Nummer 440).

Themen:

  • Judentum und Islam
  • Philosophie und Religion
  • Gott und die Welt
  • Arabisch-islamische Philosophie
  • Gott
  • Religion
  • Rhetorik
  • Syllogismus (Typen des)

Weil durch das Verfahren der apodeiktischen Beweise etwas erst im Anschluss an die Topik (ǧadal) und die sophistischen Schlüsse gewusst wird, ist es nötig dass diese Fähigkeiten, beziehungsweise die auf Meinung beruhende und die verfälschte Philosophie, der methodisch abgesicherten Philosophie (al-falsafa al-yaqīnīya), d.h. der apodeiktisch beweisenden (al-burhānīya), zeitlich vorangehen. Nun folgt die Religion (milla), wenn sie als menschliche verstanden wird, der Philosophie nach, sowohl zeitlich als auch überhaupt, weil sie nur zur Belehrung der großen Menge über die theoretischen und praktischen Dinge dient, welche die Philosophie erforscht, und zwar derart, dass den Menschen das Verständnis hiervon entweder durch Überredung (iqnāʻ) oder durch das Hervorrufen vorgestellter Bilder (taḥyīl) oder durch beides zugleich erreicht. [...] Die Philosophie geht insgesamt der Religion auf dieselbe Weise voran, wie in der Zeit der Benutzer des Werkzeugs dem Werkzeug vorangeht.

Übersetzer: Matthias Perkams