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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Ibn Sīnā (Avicenna): Metaphysik (Buch der Genesung) I 7, § 14 (p. 47 Cairensis)

Original:

Avicenna folgert, dass die Existenz als etwas Mögliches (d.h. Denkbares) ewig besteht
وأما الممكن الوجود، فقد تبين من ذلك خاصيته وهو أنه يحتاج ضرورة إلى شيء آخر يجعله بالفعل موجوداً. وكل ما هو ممكن الوجود فهو دائماً، باعتبار ذاته، ممكن الوجود، لكنه ربما عرض أن يجب وجوده بغيره، وذلك إما أن يعرض له دائماً، وإما أن يكون وجوب وجوده عن غيره ليس دائماً، بل في وقت دون وقت.


Quelle: Ibn Sīnā (Avicenna): Metaphysik (Buch der Genesung) /Al-Īlāhīyāt (Kitāb-aš-Šifāʾ) I 7, § 14 (p. 47 Cairensis).
Edition: Ibn Sīnā (Avicenna), The Metaphysics of The Healing. A Parallel English-Arabic Text. Transl., introd. and annot. by M. E. Marmura, Provo (Utah) 2005.

Auslegung:

In diesem Text führt Ibn Sīnā seine Reflexion über die Notwendigkeit und Möglichkeit des Existierenden fort (vgl. Zitate Nummer 86 und 87). Drei Punkte sind besonders festzuhalten
a) alles „Mögliche“ existiert als solches nicht „im Akt“, d.h. es existiert nicht real, jenseits seiner Realisierbarkeit. Wirklich kann es nur werden, wenn eine externe Ursache ihm aktuelle Existenz verleiht. Das kann aber letztlich nur eine notwendige Ursache (da es nichts gibt, was nicht entweder seiner Natur nach notwendig oder möglich ist).
b) Ibn Sīnā nimmt an, dass die Notwendigkeit einem möglichen Gegenstand entweder zeitweise oder ewig zukommt. Bei letzterem lässt sich etwa an Engel oder reine Intellekte denken. Auch diese sind also in aktueller Weise ewig, aber nicht aus sich selbst heraus notwendig, da sie wieder von einer schlechthin notwendigen Ursache abhängig sind.
c) Das Mögliche als solches, d.h. als denk- und realisierbares Objekt, ist ebenfalls ewig. Die mögliche Existenzform scheint also einfach „da“ zu sein, ist also offenbar nicht von einer externen Ursache verursacht. Der Status des Möglichen als solchen führt in der Folgezeit zu intensiven Diskussionen darüber, was es überhaupt heißt, möglich zu sein und wie sich das mögliche Existieren zur Macht Gottes verhält.
Im Endeffekt legt Ibn Sīnā hier die Grundlagen einer modalen Ontologie, bei der letztlich weitere Seinsebenen jenseits der alltäglichen Existenz uns bekannter, sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände angenommen werden. Damit werden wichtige Vorbereitungen im Hinblick auf eine Transzendentalphilosophie getroffen.

Themen:

  • Existenz
  • Judentum und Islam
  • Gott und die Welt
  • Arabisch-islamische Philosophie
  • Essenz/Existenz
  • Kausalität
  • Möglichkeit/Notwendigkeit
  • Notwendigkeit
  • Ontologie
  • Potentialität (Möglichkeit)
  • Sein

Was das Mögliche betrifft, so ist hieraus seine Besonderheit klar geworden, und zwar dass es unbedingt eines anderen bedarf, dass es zu einem im Akt existierenden macht. Alles, was im Hinblick auf die Existenz möglich (mumkin al-wuğūd) ist, das ist hinsichtlich seines Wesens ewig ein möglich Existierendes. Aber manchmal stößt es ihm zu, dass seine Existenz durch etwas anderes notwendig wird. Dies stößt ihm nun entweder ewig zu, oder die Notwendigkeit seiner Existenz stammt von einem anderen auf nicht ewige Weise, sondern zu einer Zeit, aber nicht zu einer anderen Zeit.

Übersetzer: Matthias Perkams