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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Ibn Sīnā (Avicenna): Die Seele (Buch der Genesung) I 1 (p. 16 Rahman)

Original:

Ibn Sīnā (Avicenna) erklärt am Beispiel vom fliegenden Menschen, dass man die Seele ganz losgelöst von ihrer Funktion, den Körper zu beleben, denken kann
يجب أن يتوهم الواحد منا كأنه خُلق دفعةً وخُلق كاملاً، لكنه حجب بصره عن مشاهدة الخارجات، وخُلق يهوى في هواء أو خلاء هوياً لا يصدمه فيه قوام الهواء صدم ما يحوج أن يحسّ، وفُرق بين أعضائه فلم تتلاق ولم تتماس، ثم يتأمل أنه هل يثبت وجود ذاته فلا يشكّ في إثباته لذاته موجودة ولا يثبت مع ذلك طرفاً من أعضائه.


Quelle: Ibn Sīnā (Avicenna): Die Seele (Buch der Genesung) /An-Nafs (Kitāb-aš-Šifāʾ) I 1 (p. 16 Rahman).
Edition: Avicenna's De Anima (arabic text). Being the psychological part of Kitāb al-shifāʾ. ed. by Fazlur Rahman, London u. a. 1959.

Auslegung:

Dieser Text ist unter dem Titel „Der fliegende Mensch“ eines der bekanntesten Argumente Ibn Sīnās (Avicennas). Es soll vor allen Dingen klären, was die Seele „an sich“, unabhängig von ihrer Funktion, den Körper zu beleben, ist. Diese Frage hatte Ibn Sīnā in seinem vorherigen Nachweis der Existenz der Seele (Zitat Nummer 940) ausdrücklich offen gelassen (vgl. aber Zitat Nummer 951). – Das Argument ist offenbar eine Art Gedankenexperiment: Die adressierte Person soll prüfen, ob sie denken kann, sie sei etwas, das keinerlei Verbindung zu irgendeinem der Glieder besitzt, die seinen Körper ausmachen, sondern sich ganz ohne eine solche Verbindung in einem leeren Raum bewege. Das Argument insinuiert, dass es möglich ist, einen solchen Zustand zu denken, und dass daraus die Denkmöglichkeit folgt, die Seele könne als solche eine Entität ganz ohne Körper sein. Darin ist die Möglichkeit impliziert, dass die Seele eine Seinsweise hat, die nicht durch diese Funktion bestimmt ist. – Ein solches Argument stellt natürlich keinen Beweis dafür dar, dass es eine solche Seele gibt und dass sie wirklich so ist. Es kann aber den ersten Schritt eines solchen Argumentes darstellen, indem es gleichsam die Bedingung der Möglichkeit einer ganz vom Körper unabhängigen Existenz der Seele darstellt. Ob es allerdings irgendeine Beweiskraft jenseits der subjektiven Akzeptanz des Gedankens hat, den Avicenna suggeriert, kann diskutiert werden. Diese Diskussion hat gewisse Parallelen mit weiteren Gedankenexperimenten Ibn Sīnās (Zitat Nummer 86), aber auch z.B. mit Anselm von Canterburys ontologischem Gottesbeweis (Zitat Nummer 81). Man kann auch diskutieren, welche Beziehungen es zum Vorschlagen von Hypothesen hat. Doch sind alle diese Argumente separat voneinander auf ihre Plausibilität und ihre Implikationen hin zu diskutieren.

Themen:

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Jeder Einzelne von uns soll es sich so vorstellen, als wäre er plötzlich geschaffen und vollendet geschaffen, aber sein Blick abgeschirmt vom Betrachten des Äußeren; und als wäre er so geschaffen, dass er in der Luft fiele oder im Leeren, ohne dass ihm das Vorhandensein der Luft einen Widerstand entgegensetzte, den er wahrnehmen könne, und als bestünde eine Trennung in Bezug auf seine Glieder, so dass sie sich nicht berührten und keinen Kontakt zueinander hätten. Dann soll er bedenken, ob er die Existenz seines Wesens bejaht, so dass er an der Bejahung davon nicht zweifelt, dass sein Wesen existiert, und ob er zugleich damit die Begrenzung seiner Glieder nicht bejaht.

Übersetzer: Matthias Perkams