Original:
Ibn Rušd (Averroes) erklärt, warum es notwendigerweise (nur) einen universalen Intellekt geben muss
[1] Et cum ista est diffinitio intellectus materialis, manifestum est quod differt apud ipsum a materia prima in hoc quod iste est in potentia omnes intentiones formarum universalium materialium, prima autem materia est in potentia omnes istae formae sensibiles, non cognoscens neque comprehendens.
[2] Et causa propter quam ista natura est distinguens et cognoscens, prima autem materia neque cognoscens neque distinguens, est quia prima materia recipit formas diversas, scilicet individuales et istas, ista autem recipit formas universales. Et ex hoc apparet quod ista natura non est aliquid hoc, neque corpus neque virtus in corpore; quoniam, si ita esset, tunc reciperet formas secundum quod sunt diversa et ista, et si ita esset, tunc formae existentes in ipsa essent intellectae in potentia.
Quelle:
Ibn Rušd (Averroes):
Großer Kommentar zu Aristoteles‘ De anima
III, Abschnitt 5.
Edition: Averroes, Commentarium magnum in Aristotelis De anima. Rec. F. Stuart Crawford, Cambridge 1953.
Auslegung:
An dieser Stelle formuliert Ibn Rušd (Averroes) seine berühmte These, dass es nur einen universalen Intellekt für alle Menschen gebe. Sein Argument geht von einer Behauptung des Aristoteles aus, nämlich dass der Intellekt allgemeine Formen aufnehme. Damit steht er im Gegensatz zur Sinneswahrnehmung, die sich nur auf individuelle konkrete Formen richtet, vor allem aber zur Materie: Denn so wie Materie zu allem werden kann – zum Beispiel zu einem Pferd, wenn ein Stück Materie die Form „Pferd“ annimmt –, so kann auch der Intellekt alles werden, insofern er alles denken kann, nämlich indem er strikt universale „Formen“ aufnimmt. Die „Formen“, die der Intellekt denkt, sind also Ibn Rušd zufolge strikt allgemeine Ideen, z.B. „das Dreieck“ oder „das Pferd“. Einzelne Dreiecke oder Pferde können seiner Meinung nach hingegen nicht gedacht werden. Wenn das aber so ist, muss sich der Intellekt analog zu seinen Erkenntnisgegenständen verhalten. Also muss er auch strikt universal sein und kann nicht in einem individuellen Körper realisiert sein. Denn wie sollte er sonst etwas strikt Universales und Unkörperliches denken können? Bei dieser Schlussfolgerung, die auf uns kontraintuitiv wirkt, ist Ibn Rušd von dem alten Gedanken beeinflusst, dass es immer eine Ähnlichkeit bzw. Entsprechung zwischen dem Erkenntnisvermögen und dem, was es erkennt, geben muss.
Themen:
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