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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Ibn Rušd (Averroes): Großer Kommentar zu Aristoteles‘ De anima III, Abschnitt 5 (p. 411f. Crawford)

Original:

Ibn Rušd (Averroes) stellt die Vorteile der Annahme eines universalen Intellekts dar
[1] Si res intellecta apud me et apud te fuerit una omnibus modis, continget quod, cum ego scirem aliquod intellectum, ut tu scires etiam ipsum, et alia multa impossibilia. Et si posuerimus eum esse multa, continget ut res intellecta apud me et apud te sit una in specie et duae in individuo; et sic res intellecta habebit rem intellectam, et sic procedit in infinitum. Et sic erit impossibile, ut discipulus addiscat a magistro, nisi scientia quae est in magistro sit virtus generans et creans scientiam quae est in discipulo, ad modum secundum quem iste ignis generat alium ignem sibi similem in specie; quod est impossibile. [...]
[2] Cum igitur posuerimus rem intelligibilem quae est apud me et apud te multam in subiecto secundum quod est vera, scilicet formas imaginationis, et unam in subiecto per quod est intellectus ens (et est intellectus materialis), dissolvuntur istae quaestiones perfecte.

Quelle: Ibn Rušd (Averroes): Großer Kommentar zu Aristoteles‘ De anima III, Abschnitt 5 (p. 411f. Crawford).
Edition: Averroes, Commentarium magnum in Aristotelis De anima. Rec. F. Stuart Crawford, Cambridge 1953.

Auslegung:

Hier liefert Ibn Rušds weitere Überlegungen zu seiner kontroversen Meinung, alle Menschen hätten nur einen Intellekt (vgl. Zitat Nummer 475). Dabei geht es besonders um das Folgeproblem, wie es dann kommt, dass verschiedene Menschen verschiedene Objekte (denkend) erkennen. Ibn Rušds Antwort ist: Zwar haben Menschen alle einen Intellekt, aber ihre Vorstellungen seien verschieden. Auf diese Weise können zwei Probleme ausgeschlossen werden: 1) Es wird erklärt, warum wir nicht alle das Gleiche denken – denn, was wir als Individuum denken, hängt ja davon ab, welche Vorstellungen wir an den Intellekt herantragen. 2) Es wird erklärt, warum Menschen einander verstehen können, obwohl sie nicht exakt das Gleiche denken. Das gegenseitige Verständnis wird dabei eben durch die Einheit des Intellekts erklärt. – Genauer gesagt, geht es dabei um den „materiellen“ Intellekt, indem die gedachten Formen realisiert werden; auch hier besteht jedes Universale noch einmal, ebenso wie im wirkenden Intellekt, der es hervorbringt. Wenn es auch dort verschiedene individuelle Formen gäbe, so Ibn Rušd, dann wäre eine gegenseitige Verständigung gar nicht möglich.

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[1] Wenn das gedachte Objekt bei mir und bei dir in jeder Hinsicht eines wäre, ergäbe sich folgende Konsequenz: Wenn ich irgendein Denkobjekt wüsste, dann wüsstest du es auch – und viele andere Unmöglichkeiten. Wenn wir aber annähmen, es sei vieles, dann wäre die Konsequenz, dass das gedachte Objekt bei mir und bei dir der Art nach eine, dem Individuum nach aber zwei wäre. So hätte das gedachte Objekt ein [weiteres] gedachtes Objekt, und so ginge es fort bis ins Unendliche. Es wäre dann unmöglich, dass ein Schüler vom Lehrer lernt, es sei denn, das Wissen, das im Lehrer ist, sei ein Vermögen, welches das Wissen, das im Schüler ist, erzeugt und erschafft – auf die Weise wie das konkrete Feuer ein anderes ihm der Art nach ähnliches Feuer erzeugt – was unmöglich ist. [...]
[2] Wenn wir daher annehmen, das gedachte Objekt, das bei mir und bei dir ist, sei vieles in dem Subjekt, dem gemäß es wahr ist, nämlich als vorgestellte Formen, und eines in dem Subjekt, durch das es Intellekt ist (und das ist der materielle), werden diese Fragen vollkommen gelöst.


Übersetzer: Wirmer, leicht geändert von Matthias Perkams