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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Spinoza, Baruch de: Theologisch-politischer Traktat XV (Auszüge aus p. 444-455 = Erstruck p. 167-170)

Original:

Spinoza bestimmt, Maimonides korrigierend, die Grenzen der Möglichkeiten der Vernunft in Bezug auf die Religion
[1] R. Jehuda[.] Alpakhar [...] vult nos omne quod Scriptura affirmat aut negat, tanquam verum amplecti vel tanquam falsum rejicere teneri [...]; debuisset [...] ostendere omnia loca, quae [...] alteris repugnant, posse ex naturae linguae et ratione loci commode metaphorice explicari, deinde Scripturam ad nostras manus incorruptam venisse. Sed [...] Moses directe affirmat Deum esse ignem (vide Deut. cap. 4 v. 24) et directe negat Deum ullam habere similitudinem cum rebus visibilibus (vide Deut. cap. 4 v. 12). [...]  
[2] Quare tam hanc quam illam Maimonidis sententiam explodimus. [...] Nam rationis potentia [...] non eo usque se extendit, ut determinare possit, quod homines sola obedientia absque rerum intelligentia possint esse beati: Theologia vero nihil praeter [...] obedientiam imperat, et contra rationem nihil vult neque potest: Fidei enim dogmata [...] eatenus tantum determinat, quatenus obedientiae sufficit; quomodo autem praecise ratione veritatis intelligenda sunt, rationi determinandum relinquit, quae revera mentis lux est.

Quelle: Spinoza, Baruch de: Theologisch-politischer Traktat /Tractatus theologico-politicus XV (Auszüge aus p. 444-455 = Erstruck p. 167-170).
Edition: Spinoza, Baruch de. Tractatus Theologico-politicus/Theologisch-politischer Traktat. Herausgegeben von G. Gawlick und F. Niewöhner. 2., unveränd. Aufl. Darmstadt: WBG 1989 (= Opera. lateinisch und deutsch, Band 1).

Auslegung:

In diesem Auszug bestimmt Spinoza die Möglichkeiten der Vernunft in instruktiver Weise neu. Gerade in Punkt [2] betont er, dass die Funktion der Vernunft sich vor allem auf die Erklärung heiliger Schriften erstreckt, während die Begründung der Religion ihr nicht zugeschrieben werden darf. Daher kann man, wie er in [1] bereits ausführt, weder behaupten, jede Schriftaussage sei zu glauben, noch, wie Maimonides behauptet, für jede lasse sich ein Grund angeben (vgl. Zitat Nummer 351). Damit gelangt Spinoza zu einem sehr differenzierten, hermeneutisch anmutenden Verständnis des Verhältnisses von Philosophie und heiliger Schrift, das nicht eng an der Frage nach der rational begründbaren Wahrheit jeder Schriftaussage hängt. Das stellt eine bedeutende Neuerung gegenüber den Debatten der arabischen Philosophie dar.

Themen:

  • Judentum und Islam
  • Religion
  • Vernunft
  • Freiheit (Vorlesung)
  • Auslegung (autoritativer Schriften)
  • Äußerer/wörtlicher Schriftsinn
  • Philosophie und Religion

[1] Rabbi Jehuda Alphakar [...] will, dass wir verpflichtet sind, alles, was die Schrift behauptet oder bestreitet, als wahr zu übernehmen oder als falsch zurückzuweisen. [...] Er hätte zeigen müssen [...], dass alle Stellen, die [...] anderen widersprechen, ausgehend von der Natur der Sprache und dem Gehalt der Stelle angemessen metaphorisch erklärt werden können, und ferner, dass die Schrift unbeschädigt in unsere Hände gelangt sei. Aber [...] behauptet Moses direkt, „Gott sei Feuer“ (Dtn 4, 24), und bestreitet direkt, dass Gott irgendeine Ähnlichkeit mit sichtbaren Dingen habe (Dtn 4, 12). [...]
[2] Deswegen haben wir sowohl diese Meinung als auch die des Maimonides zum Einsturz gebracht. [...] Denn die Kraft der Vernunft [...] erstreckt sich nicht soweit, dass sie festlegen kann, dass die Menschen allein durch Gehorsam ohne eine Einsicht in die Dinge glücklich werden können. Aber die Theologie befiehlt nichts außer [...] Gehorsam, und will weder etwas Vernunftwidriges, noch ist sie dazu befähigt. Denn die Dogmen des Glaubens [...] legt sie nur insoweit fest, wie es für den Gehorsam ausreicht. Wie diese aber genau in ihrem Wahrheitsgehalt zu verstehen sind, das festzulegen überlässt sie der Vernunft, die in Wirklichkeit das Licht des Verstandes ist.


Übersetzer: Matthias Perkams