Original:
Moses Mendelssohn erläutert seinen Begriff des Judentums als Vernunftreligion
Ich erkenne keine andere ewige Wahrheiten als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargethan und bewährt werden können. [...] Ich halte dies [...] für einen wesentlichen Punkt der jüdischen Religion, und glaube, daß diese Lehre einen charakteristischen Unterschied zwischen ihr und der christlichen Religion ausmache. Um es mit einem Worte zu sagen: Ich glaube, das Judentum wisse von keiner offenbarten Religion in dem Verstande, in welchem dieses von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben göttliche Gesetzgebung. Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben, um zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen; [...] aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeine Vernunftsätze. Diese offenbaret der Ewige uns, wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen.
Quelle:
Mendelssohn, Moses:
Jerusalem oder ueber religioese Macht und Judentum
(p. 171f. = 2. Abschnitt, p. 30f.; Bd. 8, 156-157f.).
Edition: Mendelssohn, Moses. Schriften zu Aufklärung und zum Judentum 1770-1786. Herausgegeben und eingeleitet von C. Schulte, A. Kennecke und G. Jurewicz. Darmstadt: WBG 2009 (= Studienausgabe Band II).
Auslegung:
In der Tradition des Moses Maimonides, der alle jüdischen Gebote für rational erklärt (Zitat Nummer 351), entfaltet Moses Mendelssohn hier seine berühmte These vom Judentum als einer Vernunftreligion. Damit verweist er vor allem darauf, dass Juden ausschließlich an einen Gott glauben, was man als rational einsehbar betrachten kann, aber ansonsten keine Dogmen kennen, wie sie die Christen für übernatürliche Wahrheiten halten. Die Vorschriften des jüdischen Gesetzes als Lebensregeln enthalten insofern auch keine transzendente Begründung, sondern sind als solche rational nachvollziehbar (zu Details vgl. Zitat Nummer 494 und 495). Damit ist auch klar, dass das Judentum im aufgeklärten Vernunftstaat letzten Endes kein Problem darstellen wird und die Juden problemlos als Bürger anerkannt werden können.
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