Perkams-Zitatenschatz.de

Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder ueber religioese Macht und Judentum (Auszüge aus p. 172-174 = 2. Abschnitt, p. 32-41; II Bd. 8, 161-164)

Original:

Moses Mendelssohn unterscheidet zwei Arten von ewigen sowie zeitliche Wahrheiten
[1] Ewige Wahrheiten [...] sind entweder nothwendig, an und für sich selbst unveränderlich, oder zufällig. [...] Sowohl die nothwendigen als zufälligen Wahrheiten fließen aus einer gemeinschaftlichen Quelle, aus der Quelle aller Wahrheit: jene aus dem Verstande, diese aus dem Willen Gottes. [...] Beispiele der ersten Gattung sind die Sätze der reinen Mathematik und der Vernunftkunst; Beyspiele der letzteren die allgemeine Sätze der Physik und Geisterlehre, die Gesetze der Natur, nach welchen dieses Weltall, Körper und Geisterwelt regiert wird. Außer diesen ewigen Wahrheiten giebt es noch Zeitliche, Geschichtswahrheiten. [...] Von dieser Art sind alle Wahrheiten der Geschichte, in ihrem weitesten Umfange. [...]
[2] Die [...] nothwendigen Wahrheiten gründen sich auf die Vernunft, d. i. auf unveränderlichen Zusammenhang, und wesentliche Verbindung zwischen den Begriffen. [...] Zu den Wahrheiten der zwoten Classe wird, außer der Vernunft, auch noch Beobachtung erfordert. [...] Hingegen die Geschichtswahrheiten [...] können nur von denjenigen vermittelst der Sinne wahrgenommen werden, die zu der Zeit und an dem Orte zugegen gewesen, als sie sich in der Natur zugetragen haben; von jedem anderen müssen sie auf Autorität und Zeugniß angenommen werden. [...]
[3] Ich glaube also nicht, daß die Kräfte der menschlichen Vernunft nicht hinreichen, sie von den ewigen Wahrheiten zu überführen, die zur menschlichen Glückseligkeit unentbehrlich sind.

Quelle: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder ueber religioese Macht und Judentum (Auszüge aus p. 172-174 = 2. Abschnitt, p. 32-41; II Bd. 8, 161-164).
Edition: Mendelssohn, Moses. Schriften zu Aufklärung und zum Judentum 1770-1786. Herausgegeben und eingeleitet von C. Schulte, A. Kennecke und G. Jurewicz. Darmstadt: WBG 2009 (= Studienausgabe Band II).

Auslegung:

Hier erläutert Mendelssohn den Begriff von Vernunftwahrheiten, den er im Judentum erkennt (Zitat Nummer 493) und im Folgenden weiter ausführt (Zitat Nummer 495). Neben Wahrheiten, die von Natur aus ewig sind, weil sie z.B., wie mathematische Wahrheiten, selbstevident sind, gibt es die feststehenden Abläufe der Natur, die hier bereits, wie heute, als Naturgesetze bezeichnet werden. Neben diesen zwei Typen von ewigen Wahrheiten, die Mendelssohn auf göttliche Anordnung zurückführt (die Unterscheidung von göttlicher Vernunft und göttlichem Willen zeigt hier scotischen Einfluss; vgl. Zitat Nummer 110), erwähnt er auch noch strikt zufällige, kontingente Wahrheiten. In Punkt [2] gibt er an, wie diese zwei Typen ewiger Wahrheiten und ein Typ zeitlicher Wahrheiten erkannt werden: Während mathematische und andere selbstevidente Sätze durch Denken herausgefunden werden, erfordern ewige Naturgesetze zusätzlich Beobachtung, während historische Wahrheiten (Augen-)Zeugenschaft erfordern. Mit dieser Feststellung wird der Begriff einer strikt historischen Wahrheit klar umrissen, der freilich in gewissem Sinne auch schon von Maimonides zur Erklärung der Rationalität des Gesetzes angeführt wurde (vgl. Zitat Nummer 352). Die von Mendelssohn benutzte Einteilung findet sich freilich in der frühen Neuzeit in ähnlicher Weise auch bei anderen Autoren. Der Autor endet aber bei einem Verweis auf das Ideal der Glückseligkeit als Ziel der Religion, das letztlich vor allem die Erkenntnis bestimmter ewiger Wahrheiten erfordert – wie sie das jüdische Gesetz auch kennt.

Themen:

  • Judentum und Islam
  • Vernunft
  • Wahrheit
  • Gesetz, ewiges
  • Glückseligkeit (Eudaimonia)
  • Göttlicher Wille
  • Argumentation, historische
  • Judentum und Philosophie
  • Philosophie und Religion