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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung III, Einleitung: Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten, S. 298, 301, 322-325, Auszüge

Original:

Franz Rosenzweig bemüht sich um eine philosophische Deutung des jüdischen Gebetsverständnisses, indem er die „Stunde“ als den immer wiederkehrenden Augenblick des Gebets deutet, in welchem dem in Gemeinschaft betenden ein erleuchteter Blick auf das Ganze der Schöpfungsordnung eröffnet wird
[1] Die Liebe handelt so, als ob es im Grunde nicht bloß keinen Gott, sondern sogar keine Welt gäbe. Der Nächste vertritt der Liebe alle Welt und verstellt so dem Auge die Aussicht. Aber das Gebet, indem es um Erleuchtung bittet, sieht – und zwar nicht am Nächsten vorbei, aber über das Nächste hinweg und sieht, soweit sie ihm erleuchtet wird, die ganze Welt. So befreit es die Liebe von der Gebundenheit an den Tastsinn er Hand [...]. Das Gebet stiftet die menschliche Weltordnung.
[2] Die menschliche Weltordnung – aber auch die göttliche? [...] Wenn [...] das Gebet, indem es dem Beter einen Blick auf die Welt öffnet, sie ihm in besonderer Ordnung zeigt, sollte das irgendwelche Folgen haben für diese eine göttliche Weltordnung selbst? [...] Das Gebet [...] zeigt dem Auge das fernste Ziel; aber weil der Beter auf dem bestimmten Stand-punkt seiner Persönlichkeit steht, so erscheint dies allen gemeinsame fernste Ziel hinter einem Vordergrunde von ganz persönlicher Perspektive. [...]
[3] Der Augen-blick zeigt dem Auge, so oft es sich öffnet, immer Neues. Das Neue [...] muss ein Nunc stans sein, kein verfliegender also, sondern ein ,stehender‘ Augenblick. Ein solches stehendes Jetzt heißt man, im Unterschied zum Augenblick: Stunde. [...] Indem eine Stunde herum ist, beginnt nicht bloß ,eine neue‘ Stunde, wie ein neuer Augenblick den alten ablöst, sondern es beginnt ,wieder eine‘ Stunde. [...] Nur der Glockenschlag, nicht das Ticken des Pendels stiftet die Stunde. [...] In der alltäglich-allwöchentlich-alljährlichen Wiederholung der Kreise des kultischen Gebets macht der Glaube den Augenblick zur ,Stunde‘, die Zeit aufnahmebereit für die Ewigkeit. [...]
[4] Wie aber wohnt denn im Gebet diese Kraft zu erzwingen, daß die Ewigkeit der Einladung Folge leistet? [...] Auch der Kult scheint nur das Haus zu bauen, worin Gott Wohnung nehmen kann, aber kann er den hohen Gast wirklich nötigen, einzuziehen? Ja er kanns. Denn die Zeit, die er bereitet zum Besuch der Ewigkeit, ist nicht die Zeit des Einzelnen [...]; sie ist die Zeit aller. [...] Die Erleuchtung, die dem Einzelnen wird, hier kann sie keine andre sein als die, welche allen andern auch geschehen kann. [...] Dies für alle Gemeinsame, über alle Standpunkte der Einzelnen [...] hinaus, kann aber nur eines sein: das Ende aller Dinge, die letzten Dinge.

Quelle: Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung III, Einleitung: Über die Möglichkeit, das Reich zu erbeten, S. 298, 301, 322-325, Auszüge.
Edition: N.N.

Auslegung:

- grundlegend ist der Zweck des Gebets, den Blick des Menschen für das Ganze zu öffnen und nicht, wie die Liebe, auf das Naheliegendste beschränkt zu sein
- keine direkte Wirkung des Gebets auf die göttliche Weltordnung, aber Veränderung der Perspektive des Menschen auf diese
- neben dem selbst Gesehenen kommt auch das Ganze in den Blick
- Voraussetzung ist, dass das Ewige selbst im Augenblicklichen präsent ist
→ Notwendigkeit einer dauerhaften, regelmäßigen Wiederholung, wie sie im jüdischen Gebet immer wieder geschieht
- Rechtfertigung einer religiösen Praxis gegenüber einer strikten Individualität
- zugleich Gedanke einer „Nötigung“ Gottes aufgrund der strikten Allgemeinheit dieses Projektes
- individuelle Erfahrung ist prinzipiell wiederholbar, ja auf Wiederholung angelegt
- die Individualität wird somit nicht durch ein philosophisches System, sondern durch den allgemeinen Blick des Religiösen über sich selbst hinausgehoben, bleibt hierin aber frei

M.P.

Themen:

  • Gebet
  • Judentum und Islam
  • Schöpfungsordnung