Original:
Der ,Averroist’ Alberich von Reims (um 1250) über die Vorzüge der Philosophie
[1] Tria sunt, ut ait Empedocles, in tota rerum varietate praecipua quae excellentissimum divinae munificentiae donum, philosophiam videlicet, elucidant et extollunt, scilicet mobilis affluentiae contemptus, divinae felicitatis appetitus, mentis illustratio. [...]
[2] Nam, ut ait Averroes in prologo octavi Physicorum, esse hominis ex sua ultima perfectione vel completione est ipsum esse perfectum per scientias speculativas. [...] Ne igitur homo maneat imperfectus et suo naturali frustretur appetitu, philosophiae studium est ab ipso nisu mentis continuo diligenter exercendum ac iugiter appetendum.
[3] Appetitu quidem trahimur naturali, sicut proponit dea scientiarum suo principio: ,Omnes homnies’ etc. [naturaliter scire desiderant]. Supra quod dicit commentator quod ,habemus naturale desiderium ad sciendum veritatem’. Merito, cum secundum Aristotelem decimo Ethicorum homo sit solus intellectus,
[4] hic autem intellectus, per verbum Averrois praefati [...] per philosophiam completur. [...] Cui consonat Seneca dicens: Vivere ,sine litteris mors est et hominis vivi sepultura’.
Quelle:
Alberich von Reims:
Die Philosophie
/
Philosophia
(
phil.)
(p. 29-33 Gauthier).
Edition: Revue des sciences philosophiques et théologiques 68, 1984.
Auslegung:
Der Alberich (frz. Aubry), der diesen Text verfasst hat, lehrte wohl um 1250 oder etwas später an der Philosophischen Fakultät der Universität Paris. Diese Fakultät, die ursprünglich die „freien Künste“, lateinisch artes liberales, lehren sollte und daher auch „Artistenfakultät“ genannt wurde, musste von allen Studenten durchlaufen werden, bevor sie an den höheren Fakultäten, also der Juristerei, der Medizin oder der Theologie, studieren durften.
Für die Lehrer der Artistenfakultät war insofern die Möglichkeit sehr attraktiv, sich selbst eine Identität als Philosophen zuzulegen, wie sie verschiedene antike und arabische Texte suggerierten. Da dabei neben Aristoteles sein „Kommentator“ Averroes eine große Rolle spielte, wurden diese Autoren, häufig ,Averroisten’ genannt. Vor diesem Hintergrund präsentiert der Dozent Alberich seinem Publikum hier ein Ideal rein philosophischer Lebensführung ohne explizite theologische Bezüge. Mit dieser Idee nehmen er und seine Zeitgenossen eine wichtige Rolle in der Entstehung des neuzeitlichen westeuropäischen Philosophiebegriffs ein.
Wie man sieht, geht es Alberich nicht zuletzt darum, möglichst viele verschiedene Quellen für seine Idee zu sammeln: Allein in diesem Auszug werden neben Aristoteles und Averroes auch der Vorsokratiker Empedokles sowie der Römer Seneca zitiert. Zentral ist jedoch die (auf antike Vorbilder zurückgehende) Idee des Averroes, dass die Vollendung der säkularen Philosophie in theoretischer Forschung geschieht (Zitat Nummer 768), die insofern die höchste Form von Eudaimonie im Sinne von
Nikomachische Ethik X ausmacht (Zitat Nummer 442). Ein wichtiger Vorläufer solcher Gedanken im lateinischen Raum war vor allen Dingen Albertus Magnus mit seiner Idee einer philosophischen Kontemplation (Zitat Nummer 769), der diese aber nicht so exklusiv in den Mittelpunkt stellt wie die Averroisten.
Themen:
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