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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Abaelard, Peter: Ja und Nein Prolog

Original:

Peter Abaelard über Prinzipien der Hermeneutik
Ad quam nos maxime pervenire impedit inusitatus locutionis modus ac plerumque earundem vocum significatio diversa, cum modo in hoc modo in illa significatione vox eadem sit posita. [...] Illud quoque diligenter attendi convenit, ne, dum aliqua nobis ex dictis sanctorum obiciuntur tamquam sint opposita vel a veritate aliena, falsa tituli inscriptione vel scripturae ipsius corruptione fallamur. [...] Si itaque aliquid a veritate absonum in scriptis sanctorum forte videatur, pium est et humilitati congruum atque caritati debitum, quae "omnia credit, omnia sperat, omnia sustinet" nec facile vitia eorum quos amplectitur suspicatur, ut aut eum scripturae locum non fideliter interpretatum aut corruptum esse credamus, aut nos eam non intelligere profiteamur. [...] His omnibus praedictis modis solvere controversias in scriptis sanctorum diligens lector attentabit. Quod si forte adeo manifesta sit controversia, ut nulla possit absolvi ratione, conferendae sunt auctoritates, et quae potioris est testimonii et maioris confirmationis potissimum retinenda.

Quelle: Abaelard, Peter: Ja und Nein /Sic et Non Prolog.
Edition: N.N.

Auslegung:

- Peter Abaelard (1079-1142) über Probleme und Prinzipien der Texthermeneutik
- Vorgehensweise der Hermeneutik bei widersprüchlich erscheinenden Stellen in den Schriften der Heiligen
- Insgesamt sieben hermeneutische Prinzipien in der Einleitung zu Abaelards Sic et Non
1. Auf die Bedeutung der Wörter achten.
2. Darauf achten, ob der Autor richtig angegeben ist.
3. Darauf achten, ob manches nachträglich vom Autor korrigiert wurde.
4. Darauf achten, ob der Autor nur die Meinung anderer wiedergibt.
5. Darauf achten, ob ein Autor wirklich die Wahrheit aussagen oder nur eine Meinung angeben wollte.
6. Vergleich verschiedener Autoritäten und deren Abwägung.
7. Unterscheidung inspirierter von nicht inspirierten Aussagen.
- Methode des Sic et Non entsteht aus diesem Buch: Gegenüberstellung von Autoritäten, indem ein Autor auf sie antwortet.
→ Entstehung der Quaestio als eigene Form mittelalterlicher Theologie
- Summen setzen sich aus Quaestionen zusammen, aber diese sind auch im Kommentar häufig zu finden

Themen:

  • Hermeneutik
  • Mittelalterliche Philosophie

Zum Verständnis zu gelangen, hindert uns [1.] besonders eine ungewöhnliche Ausdrucksweise und meistens die verschiedene Bedeutung derselben Worte, wenn dasselbe Wort mal in dieser, mal in jener Bedeutung verwendet wird. [...] [2.] Auch dies gilt es sorgfältig zu beachten, dass wir nicht, wenn uns einiges von den Worten der Heiligen entgegengehalten wird, als stehe es im Widerspruch oder sei von der Wahrheit entfernt, durch die Aufschrift eines falschen Titels oder durch eine Verderbnis des Textes selbst getäuscht werden. [...] [3.] Wenn daher gelegentlich in den Schriften der Heiligen etwas von der Wahrheit Abweichendes aufscheint, ist es respektvoll, der Bescheidenheit entsprechend sowie eine Pflicht der Liebe, die "alles glaubt, alles hofft, alles aushält" (1 Korinther 13, 7) und nicht leichthin bei denen, die sie umschließt, Fehler vermutet, dass wir annehmen, diese Schriftstelle sei entweder nicht treu interpretiert worden oder verdorben, oder dass wir bekennen, dass wir sie nicht verstehen. [...] Der sorgfältige Leser wird sich bemühen, auf alle genannten Weisen die Streitpunkte in den Schriften der Heiligen aufzulösen. Aber wenn der Streitpunkt einmal so deutlich ist, dass er durch kein Vernunftargument gelöst werden kann, dann müssen die Autoritäten verglichen werden, und die, die stärker bezeugt und besser bestätigt ist, ist in erster Linie festzuhalten.

Übersetzer: Perkams