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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Ibn Sīnā (Avicenna): Metaphysik (Buch der Genesung) I 5 § 8-11. (p. 31f. Cairensis)

Original:

Avicenna erklärt und begründet den Unterschied von Existenz und Essenz
(1) ونقول: إن معنى الموجود ومعنى الشيء متصوران في الأنفس، وهما معنيان. والموجود والمثبت والمحصل أسماء مترادفة على معنى واحد، ولا نشك في أن معناها قد حصل في نفس من يقرأ هذا الكتاب. والشيء وما يقوم مقامه قد يدل به على معنى آخر في اللغات كلها، فإن لكل أمر حقيقة هو بها ما هو، فللمثلث حقيقة أنه مثلث، وللبياض حقيقة أنه بياض، وذلك هو الذي ربما سميناه الوجود الخاص، ولم نرد به معنى الوجود الإثباتي. ... إنه من البين أن لكل شيء حقيقة خاصة هي ماهيته، ومعلوم أن حقيقة كل شيء الخاصة به غير الوجود الذي يرادف الإثبات،
(2) قلت: وذلك لأنك إذا قلت: حقيقة كذا موجودة إما في الأعيان، أو في الأنفس، أو مطلقاً يعمهما جميعاً، كان لهذا معنى محصل مفهوم. ولو قلت: إن حقيقة كذا، حقيقة كذا، أو أن حقيقة كذا حقيقة، لكان حشواً من الكلام غير مفيد.


Quelle: Ibn Sīnā (Avicenna): Metaphysik (Buch der Genesung) /Al-Īlāhīyāt (Kitāb-aš-Šifāʾ) I 5 § 8-11. (p. 31f. Cairensis).
Edition: Ibn Sīnā (Avicenna), The Metaphysics of The Healing. A Parallel English-Arabic Text. Transl., introd. and annot. by M. E. Marmura, Provo (Utah) 2005.

Auslegung:

Dies ist der klassische Text, mit dem Avicenna die Unterscheidung des Wesens bzw. der Essenz eines jeden Dinges von seiner Existenz begründet. Diese Unterscheidung findet sich zwar in der Gotteslehre bereits früher, z.B. bei al-Fārābī (Zitat Nummer 443), aber Ibn Sīnā liefert eine elegante und allgemeingültige Begründung in Form eines Gedankenexperiments: Es sei doch einem jeden, wenn er darüber nachdenke, klar, dass jedes von ihm gedachte Objekt entweder existieren könne oder nicht (Punkt [2]). Dies lässt sich auch auf das unter Punkt [1] genannte Beispiel vom Dreieck anwenden: Man kann verstehen, was ein Dreieck ist, ohne dass man weiß, ob ein solches Dreieck existiert. Aus dieser einfachen Überlegung kann Ibn Sīnā folgern, dass bei einem jeden Gegenstand sein Dasein von seiner Existenz zu unterscheiden ist. Somit wird eine weitere Komplexitätsstufe in die Analyse des Seins von Dingen eingeführt, zusätzlich zu den bereits bei Aristoteles vorhandenen Unterscheidungen wie Substanz und Akzidens oder Möglichkeit und Wirklichkeit (Zitate Nummer 1001 und 661). Bei Avicenna wie auch bei seinen Nachfolgen in Mittelalter und Neuzeit wird die Unterscheidung von Essenz und Existenz auch weiterhin besonders im Kontext des Gottesbeweises angewandt (Zitat Nummer 511). Trotzdem bedeutet die Einführung dieses Unterschieds in den Seinsbegriff eine wesentliche Veränderung der philosophischen Perspektive, da nun nicht mehr angenommen werden kann, dass alles, was wir denken können, auch in irgendeiner Weise (so) ist, wie wir es denken können.

Themen:

  • Existenz
  • Essenz/Existenz
  • Gott und die Welt
  • Judentum und Islam
  • Mittelalterliche Philosophie
  • Arabisch-islamische Philosophie
  • Ontologie
  • Sein
  • Gedankenexperiment

[1] ,Existent‘ (mawğūd), ,positiv bestehend‘ und ,wirklich seiend‘ sind synonyme Begriffe, die eine Bedeutung haben – und unzweifelhaft ist ihre Bedeutung in der Seele desjenigen präsent, der dieses Buch liest. ,Etwas‘ (šayyʾ) und das, was gleichbedeutend ist, hat gewiss in allen Sprachen eine andere Bedeutung; denn jedes Ding hat eine Wesenheit (ḥaqīqa), durch die es das ist, was es ist (so hat ein Dreieck die Wesenheit, ein Dreieck zu sein, und etwas Weißes die Wesenheit, weiß zu sein), und diese nennen wir manchmal die „spezifische Existenz“, ohne dass dadurch die Bedeutung „positiv bestehende Existenz“ bezeichnet würde. [...] Es ist klar, dass jedes ,Ding‘ eine spezifische Wesenheit besitzt, nämlich seine Washeit (māhīya). Es ist zugleich bekannt, dass die für jedes ,Ding‘ spezifische Wesenheit verschieden ist von der Existenz, die synonym ist mit positivem Bestehen.
[2] Der Grund dafür ist folgender: Wenn Du sagst, "die Wesenheit von diesem oder jenem existiert entweder in den Einzeldingen oder in den Seelen oder absolut genommen, indem letzteres die ersten beiden umschließt", dann kommt dem eine bestimmte verständliche Bedeutung zu. Wenn Du aber sagen würdest: "die Wesenheit von diesem oder jenem ist die Wesenheit von diesem oder jenem", oder: "Die Wesenheit von diesem oder jenem ist eine Wesenheit", so ist dies eine Tautologie, die keine neue Kenntnis verleiht.

Übersetzer: Matthias Perkams