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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Augustinus von Hippo: Der Gottesstaat 1, 19

Original:

Augustinus, ein scharfer Kritiker der Selbsttötung, setzt sich mit dem Fall der Lucretia auseinander, die sich nach einer Vergewaltigung selbst tötete
[1] ,Mirabile dictu: duo fuerunt et adulterium unus admisit‘. [...] Vos appello, leges iudicesque Romani. [...] Si [...] vobis [...] probaretur, non solum indemnatam, verum etiam castam et innocentem interfectam esse mulierem, nonne eum, qui id fecisset, severitate congrua plecteretis? Hoc fecit illa Lucretia; illa, illa sic praedicata Lucretia innocentem, castam, vim perpessam Lucretiam insuper interemit. [...]
[2] An forte ideo [...] quia non insontem, sed male sibi consciam interemit? Quid si enim (quod ipsa tantummodo nosse poterat) quamvis iuveni violenter inruenti etiam sua libidine inlecta consensit idque in se puniens ita doluit, ut morte putaret expiandum?

Quelle: Augustinus von Hippo: Der Gottesstaat /De civitate dei 1, 19.
Edition: Augustinus, De civitate dei: Sancti Aurelii Augustini De civitate dei libri. Ad fidem quartae editio- nis Teubnerianae quam a. 1927–1928 curaverunt G. Dombart / A. Kalb paucis emendatis mutatis additis. Tomus 1–2 (CCL 47–48), Turnhout 1955.

Auslegung:

Im ersten Buch seines Werks „Der Gottesstaat“ (De civitate dei) setzt sich Augustinus mit klassischen „Exempla“ der römischen Tradition auseinander, also mit Beispielen eines vorbildlichen Verhaltens von Angehörigen der römischen Oberschicht. Ein solches Beispiel ist nach dem Historiker Livius der Fall der Lucretia, die sich selbst tötete, nachdem sie von Tarquinius Superbus, dem letzten König Roms vergewaltigt worden war. Vor der Selbsttötung forderte Lucretia aber noch ihren Mann auf, sie zu rächen, was letztlich zum Sturz des Tarquinius Superbus führte.
Für Augustinus, der als Christ jegliche Selbsttötung ablehnt, ist Lucretias Verhalten schlichtweg zu verurteilen. Warum hätte sie sich auch umbringen sollen, wenn sie an dem Geschlechtsverkehr keinerlei Schuld traf? Augustinus suggeriert daher, dass sie durchaus Freude daran empfunden haben könnte und sich aus Schuldbewusstsein umgebracht haben könnte.
Der Text zeigt einen Konflikt zwischen Augustinus’ typisch spätantiker Überzeugung, dass Schuld nicht einfach auf ein körperliches Geschehen zurückgehen kann, sondern eine innere Zustimmung erfordert, mit der alten römischen Ethik, nach der Lucretia schon durch den Akt der Vergewaltigung, insbesondere für ihren Mann, entehrt ist. Ferner lehnt Augustinus das römische Ideal der Selbsttötung in ausweglosen Situationen grundsätzlich ab. Bemerkenswert ist aber vor allem seine psychologische Suggestion, die letztlich genauso wenig Verständnis für Lucretias Situation aufbringt wie das altrömische Ethos.

Themen:

  • Gewissen
  • Selbsttötung
  • Strafe
  • Apologetik
  • Frauen (Aussagen über)
  • Lucretia
  • Schuld
  • Vergewaltigung

[1] ,Es klingt wundersam: [...] Da waren zwei, und nur einer ließ den Ehebruch zu‘. [...] Ich rufe Euch an, römische Gesetze und Richter. [...] Wenn [...] Euch [...] bewiesen würde, dass eine [...] keusche und unschuldige Frau getötet wurde, würdet ihr nicht den, der das getan hätte, mit angemessener Strenge bestrafen? Das hat diese Lucretia getan: sie, sie, die so hochgelobte Lucretia hat die unschuldige, die keusche, die vergewaltigte Lucretia getötet. [...]
[2] Vielleicht deswegen [...], weil sie keine unschuldige, sondern eine mit schlechtem Gewissen tötete? Was ist denn, wenn sie – was sie allein wissen konnte – dem jungen Mann, der sie allerdings gewaltsam angriff, auch durch ihre eigene Begierde verführt zustimmte und dies, als Strafe gegen sich selbst, so sehr bereute, dass sie meinte, es müsse mit dem Tode gesühnt werden?

Übersetzer: Matthias Perkams