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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Ibn Sīnā (Avicenna): Metaphysik (Buch der Genesung) I 5 § 22. 24 (p. 35f. Cairensis)

Original:

Avicenna erklärt die Begriffe ,notwendig‘ und ,möglich‘
(1) وقد يعسر علينا أن نعرّف حال الواجب والممكن والممتنع بالتعريف المحقق أيضاً، بل بوجه العلامة. وجميع ما قيل في تعريف هذه مما بلغك عن الأولين قد يكاد يقتضي دوراً. ... إذا أرادوا أن يحدوا الممكن، أخذوا في حده إما الضروري وإما المحال. ... وإذا أرادوا أن يحدوا الضروري، أخذوا في حده إما الممكن وإما المحال.
(2) على أن أولى هذه الثلاثة في أن يتصور أولاً، هو الواجب. وذلك لأن الواجب يدل على تأكد الوجود، والوجود أعرف من العدم، لأن الوجود يعرف بذاته، والعدم يعرف، بوجه ما من الوجوه بالوجود.


Quelle: Ibn Sīnā (Avicenna): Metaphysik (Buch der Genesung) /Al-Īlāhīyāt (Kitāb-aš-Šifāʾ) I 5 § 22. 24 (p. 35f. Cairensis).
Edition: Ibn Sīnā (Avicenna), The Metaphysics of The Healing. A Parallel English-Arabic Text. Transl., introd. and annot. by M. E. Marmura, Provo (Utah) 2005.

Auslegung:

Ibn Sīnā erörtert an dieser Stelle die Bedeutung der Begriffe „notwendig“, „möglich“ und „unmöglich“. Diese Erörterung, die in der Metaphysik des Buchs der Genesung relativ früh erfolgt, steht in engem Zusammenhang mit Ibn Sīnās Unterscheidung von „Essenz“ und „Existenz“ (Zitat Nummer 86). Denn da die Existenz von etwas sich nicht schon daraus ergibt, dass es irgendwie denkbar ist, muss die Modalität (die Art und Weise) seiner Existenz eigens reflektiert werden. Dies geschieht anhand der Begriffe ,notwendig‘, ,möglich‘ und ,unmöglich‘. Dabei stößt Ibn Sīnā allerdings auf das Problem, dass diese Begriffe weder selbstevident noch mithilfe eines noch allgemeineren Begriffs definierbar sind, so dass keine ,normale‘, „die Wesenheit angebende“ Definition möglich ist. Diese Begriffe scheinen also allgemeine Eigenschaften aller möglicherweise seienden Dingen zu beschreiben, die nicht aus einam allgemeineren Begriff abgeleitet werden können. Um trotzdem eine Charakterisierung geben zu können, bedient Ibn Sīnā sich eines „Hinweises“. Das heißt: Er erinnert an unser Vorverständnis dieser Begriffe, das davon ausgeht, dass wir zunächst nur Dinge erkennen, die tatsächlich existieren, während wir auf nicht-existierende Objekte nur bei fortgeschrittener Reflexion schließen können. Insofern muss der Begriff erkenntnistheoretisch primär sein, der die Existenz mit den geringsten Einschränkungen beschreibt, also der der Notwendigkeit. Dementsprechend versteht Ibn Sīnā „möglich“ und „unmöglich“ als abgeleitete Begriffe, die letztlich von der Notwendigkeit der Existenz her verstanden werden müssen. – Dieser letzte Schritt ist zweifelsohne diskutierbar: Kennen wir schließlich nicht in erster Linie Objekte, die entweder existieren können oder nicht, so wie es mit allen Dingen der sichtbaren Welt der Fall ist? Demgegenüber geht Ibn Sīnā von der theoretischen Denkbarkeit der Begriffe aus. Eindrucksvoll ist in jedem Fall sein Ansatz, Grundbegriffe des Denkens apriorisch zu charakterisieren.

Themen:

  • Existenz
  • Gattungen des Seienden
  • Sein
  • Gott und die Welt
  • Judentum und Islam
  • Freiheit (Vorlesung)
  • Mittelalterliche Philosophie
  • Arabisch-islamische Philosophie
  • Ontologie
  • Potentialität (Möglichkeit)
  • Notwendigkeit
  • Möglichkeit/Notwendigkeit

[1] Es ist für uns gewiss ebenfalls zu schwer, den Inhalt von ,notwendig‘, ,möglich‘ und ,unmöglich‘ durch eine die Wesenheit angebende Definition (taʿrīf muḥaqqiq) zu bestimmen, sondern das geht nur mittels eines Hinweises. Alles, was über die Definition von ihnen in dem gesagt wurde, was dich von den antiken Philosophen erreichte, endet quasi notwendigerweise in einem Zirkel. [...] Wenn sie ,möglich‘ definieren wollten, zogen sie entweder ,notwendig‘ oder ,unmöglich‘ zu seiner Definition heran [...], und wenn sie ,notwendig‘ definieren wollten, zogen sie zu seiner Definition entweder ,möglich‘ oder ,unmöglich‘ heran. [...]
[2] Aber das erste dieser drei, insofern davon zuerst ein Begriff gebildet wird, ist ,notwendig‘ (wāǧib). Das liegt daran, dass ,notwendig‘ die Festigkeit der Existenz bezeichnet, und die Existenz ist bekannter als die Nicht-Existenz, weil die Existenz in sich selbst erkannt wird, während die Nicht-Existenz irgendwie durch die Existenz erkannt wird.

Übersetzer: Matthias Perkams