Original:
Ibn Sīnā (Avicenna) beginnt seine Ausführungen mit einem Beweis der Existenz der Seele
[1] نقول إن أول ما يجب أن نتكلم فيه إثبات وجود الشي الذي يسمى نفسا’ ثم نتكلم فيما يتبع ذلك. فنقول إنا قد نشاهد أجساما تغتذي وتنمو وتولد المثل وليس ذلك لها لخسميها فبقى أن تكون في ذوانها مباديء لذلك غير جسميتها’ والشي الذي يصدر عنه هذه الأفعل’ وبالجملة كل ما يكون مبدأ لصدور أفاعيل ليست على وتيرة واحدة عادة للإرادة نسمه نفسا.
[2] وهذه اللفظة إسم لهذا الشي لا من حيث جوهر’ ولكن من جهة ... ما هو مبدأ لهذه الأفاعيل.
Quelle:
Ibn Sīnā (Avicenna):
Die Seele (Buch der Genesung)
/
An-Nafs (Kitāb-aš-Šifāʾ)
I 1 (p. 4 Rahman).
Edition: Avicenna's De Anima (arabic text). Being the psychological part of Kitāb al-shifāʾ. ed. by Fazlur Rahman, London u. a. 1959.
Auslegung:
Ibn Sīnā beginnt seine Argumentation über die Seele mit einem Nachweis darüber, dass es sie gibt. Damit geht er von vornherein davon aus, dass mit „Seele“ eine bestimmte Sache gemeint ist, deren Existenz fraglich ist. Er unterscheidet er sich deutlich von Aristoteles’ Ansatz, mit einer umrisshaften Definition zunächst zu bestimmen, was mit „Seele“ im Allgemeinen gemeint sein kann (Zitat Nummer 669). Folglich findet sich bei Aristoteles auch kein Nachweis der Existenz der Seele (vgl. auch Zitate Nummer 928 und 951). – Betrachtet man [1] im Einzelnen, zeigt sich, dass Ibn Sīnā zunächst beschreibt, welche Akte sich an belebten Lebewesen beobachten lassen. Insofern bleibt er der naturphilosophischen Perspektive auf die Seele verpflichtet, die Aristoteles begründet hatte. Er schließt aus diesen Akten eines Körpers dann aber rasch darauf, dass diesen ein unkörperliches Prinzip zugrunde liegen muss, dass er Seele nennt. Ibn Sīnā setzt also mit der hellenistischen und spätantiken Diskussion voraus, dass es einen klar konturierten Unterschied zwischen körperlichen und unkörperlichen Entitäten gibt (vgl. Zitate Nummer 936 und 938), und nimmt mit neuplatonischen Ansätzen an, dass bestimmte Akte nur von unkörperlichen Entitäten her stammen können (vgl. Zitat Nummer 939). Insofern kann er folgern, dass die belebten Körper ein unbelebtes Prinzip haben müssen, dass „Seele“ genannt werden kann. – Unter [2] weist Ibn Sīnā allerdings darauf hin, dass es sich hierbei nur um einen funktionalen Aufweis der Seele handelt, dass über ihre eigene Substanz noch nichts gesagt ist. Damit wirft er implizit die Frage auf, was die Seele an sich ist, die von Aristoteles so gar nicht gestellt worden war (für seine Antwort vgl. Zitat Nummer 456). – Insgesamt zeigt sich somit deutlich, dass die ontologischen Voraussetzungen von Ibn Sīnās Seelenlehre stark vom spätantiken Neuplatonismus geprägt sind und sich insofern signifikant von Aristoteles’ eigenen Vorannahmen unterscheiden. Inwieweit daraus gefolgert werden kann, dass Ibn Sīnās Theorie ganz unvereinbar mit der des Aristoteles ist, müsste allerdings genauer diskutiert werden.
Themen:
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Mensch und Seele
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Arabisch-islamische Philosophie
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Körper
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Körper und Seele
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Materie
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Neuplatonismus
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Psychologie (philosophische)
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Seele
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Seelenlehre (Psychologie)
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Körperliches/Unkörperliches