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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Ibn Sīnā (Avicenna): Die Seele (Buch der Genesung) II 2 (p. 58f. Rahman)

Original:

Ibn Sīnā betrachtet die Sinneswahrnehmung als ein spezifisches Feld der Abstraktion
[1] فلنتكلم الآن في القوى الحاسية والدراكة ولنتكلم فيما كلاما كليا‘ فنقول يشبه أن يكون كل إدراك إنما هو أخذ صورة المدرك بنحو من الأنحاء‘ فإن كان الإدراك إدراكا لشيء مادي فهو أخذ صورته مجردة عن المادة تجريدا ما‘ إلا أن أصناف التجريد مختلفة ومراتبها متفاوتة‘
[2] فإن الصورة المادية يعرض لها بسبب المادة أحوال وأمور ليست لها هي بذاتها (...) مثاله أن الصورة الإنسانية والماهية الإنسانية طبيعة لا محالة يشترك فيها أشخاص النوع كلها بالسوية‘ وهي بحدها شيء واحد وقد عرض لها أن وجدت في هذا الشخص وذلك الشخص فتكثرت‘ وليس ذلك لها من جهة طبيهتها الأنسانية‘ (...) فإذن أحد العوارض التي تعرض للإنسانية من جهة المادة هو هذا النوع من التكثرالانقسام.


Quelle: Ibn Sīnā (Avicenna): Die Seele (Buch der Genesung) /An-Nafs (Kitāb-aš-Šifāʾ) II 2 (p. 58f. Rahman).
Edition: Avicenna's De Anima (arabic text). Being the psychological part of Kitāb al-shifāʾ. ed. by Fazlur Rahman, London u. a. 1959.

Auslegung:

Ibn Sīnā beschäftigt sich hier mit den Grundlagen der Sinneswahrnehmung. In [1] gibt er dabei weitgehend Aristoteles’ Beschreibung der Funktion der Einzelsinne wieder: Bei der Sinneswahrnehmung, z.B. beim Sehen, wird eine Information, hier „Form“ genannt, die dem Gegenstand innewohnt, z.B. eine Farbe, zum Sinnesorgan hin übertragen. Dazu muss diese Form vom Gegenstand ab- bzw. losgelöst werden, was die arabische Terminologie betont (vgl. auch Zitat Nummer 970). In der lateinischen Übersetzung tauchen dann Ausdrücke auf, die unseren Terminus „Abstraktion“ vorbereiten. – In [2] behandelt Ibn Sīnā einen ganz anderen Aspekt des Formbegriffs, nämlich die Vorstellung, dass „Formen“ ihrer Natur nach immateriell sind und ein unkörperliches Sein haben. Daraus ergibt sich, dass ihr konkretes Vorkommen an einem bestimmten Körper niemals die Form in reiner Weise enthält, sondern in einer vom Körper bestimmten Weise. Man könnte daran denken, dass eine bestimmte Farbe in verschiedenen materiellen Substraten unterschiedlich ausfällt. Dem metaphysich interessierten Ibn Sīnā geht es aber um ein allgemeineres Problem, nämlich die Frage, warum es von jeder Art Lebewesen mehrere Individuen gibt. An der Seele bzw. „Form“ dieses Lebewesens kann das nicht liegen, denn diese ist ja ganz unkörperlich und eigentlich nur eine. Daher kommt Ibn Sīnā zu dem Schluss, die Existenz vieler Individuen einer Art könne nur an der Materie liegen, in der diese Art konkret realisiert sei. Die Existenz individueller Formen, wie der antike Neuplatonismus sie kennt (Zitat Nummer 988), wird von Ibn Sīnā offenbar nicht angenommen.

Themen:

  • Arabisch-islamische Philosophie
  • Mensch und Seele
  • Form
  • Materie
  • Psychologie (philosophische)
  • Seele
  • Seelenlehre (Psychologie)
  • Sinne(swahrnehmung)
  • Individuum/Individuation

[1] Jetzt wollen wir über die Vermögen der Sinneswahrnehmung und des Auffassens sprechen, und wir wollen über das sprechen, was zur allgemeinen Rede darüber gehört. Wir sagen also: Es scheint, dass jedes Auffassen nichts anderes als ein Ergreifen der aufgefassten Form auf eine von mehreren Weisen ist. Wenn sich nun das Auffassen auf eine materielle Sache richtet, so ist es das Ergreifen seiner von der Materie in einer bestimmten Weise losgelösten (muğarradatin = abstractam) Form. Aber es gibt verschiedene Arten der Loslösung (al-tağrīdi = abstractionis), und ihre Stufen sind nicht von gleicher Art.
[2] Der materiellen Form stoßen nun aufgrund der Materie akzidentell Zustände und Lagen zu, die nicht zu ihrem Wesen gehören. […] Zum Beispiel ist die menschliche Form bzw. die menschliche Washeit eine Natur, die nicht notwendigerweise die Individuen der ganzen Art in gleicher Weise umfasst. Sie ist ja der Zahl nach eine Sache, und es stößt ihr akzidentell zu, dass sie in diesem und jenem Individuum besteht, so dass sie sich vervielfältigt. Und das trifft auf sie nicht von Seiten ihrer Menschennatur zu. […] Folglich ist eines der Akzidenzien der Menschheit von Seiten der Materie genau diese Art der Vervielfältigung durch Teilung.

Übersetzer: Matthias Perkams