Original:
Stephanos von Alexandrien [Pseudo-Philoponos] fasst am Ende der Antike verschiedene Möglichkeiten der Deutung des von Aristoteles in „Über die Seele“ III 5 gemeinten Geistes zusammen
οἱ ἐξηγηταὶ ἐπὶ πολλὰς καὶ διαφόρους ὁδοὺς ἐτράπησαν […].
[1] Ἀλέξανδρος μὲν γὰρ ἐνεργείᾳ νοῦν ἐκάλεσε τὴν μίαν τῶν πάντων ἀρχὴν ἤτοι τὸν θύραθεν νοῦν.
[2] Μαρῖνος δὲ ἐνεργείᾳ νοῦν εἶπεν οὐ τὴν μίαν τῶν πάντων ἀρχὴν ἀλλὰ δαιμόνιόν τινα ἢ ἀγγελικόν· […].
[3] Πλωτῖνος δὲ ἐνεργείᾳ νοῦν ἐνόησε τὸν ἀνθρώπινον νοῦν, τὸν μὲν ἀεὶ ἐνεργοῦντα, τὸν δέ ποτε ἐνεργοῦντα. πεπλάνηται δὲ Πλωτῖνος ἀπὸ Πλάτωνος· ἀκούσας γὰρ ἐξ ἐκείνου ὅτι ἡ ψυχὴ ἀεικίνητός ἐστιν, ἐνόμισεν ἀεικίνητον αὐτὸν λέγειν τῷ ἀεὶ νοεῖν. […].
[4] Πλούταρχος δέ, ὃ καὶ ἡμεῖς τιθέμεθα, οὐκ οἴεται εἶναι παρ’ ἡμῖν διττὸν νοῦν, ἀλλ’ ἁπλοῦν, καὶ τοῦτον τὸν ἁπλοῦν οὐ λέγει ἀεὶ νοοῦντα, ἀλλά ποτε νοοῦντα. οἴεται οὖν ὁ Πλούταρχος ἐνεργείᾳ λέγειν τὸν νοῦν τὸν ἀνθρώπινον, ὃν οἴεται καὶ ποτὲ νοεῖν.
Quelle:
Stephanos von Alexandria:
Kommentar zu De anima III
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In De anima III
(p. 535, 2-16 Hayduck).
Edition: Ioannis Philoponi in Aristotelis De anima libros [I-II] commentaria, edidit M. Hayduck (CAG 15), Berlin 1897, 446-607.
Auslegung:
Diese Doxographie (vgl. Zitat Nummer 950) liefert einen typologischen Überblick über Positionen, die in den Augen des Verfassers Interpretationen des aktiven Geistes bzw. des Geistes in Aktivität, wie bereits in [3] genauer formuliert wird, in Aristoteles, Über die Seele, Kapitel III 5 sind (Zitat Nummer 671). Das ist insofern verwunderlich, als Plotin dieses Werk nie kommentiert hat. Da jedoch in der Antike die Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema und die Auseinandersetzung mit einem vorbildhaften Text, der dieses Thema behandelt, häufig Hand in Hand gehen, wird beides nicht scharf unterschieden. In jedem Fall gibt der Text einen Anhaltspunkt dafür, auf welche Weisen man
De anima III 5 lesen kann: Entweder redet Aristoteles über einen göttlichen Intellekt (Alexander) oder über einen übermenschlichen Intellekt (Marinos) oder über einen menschlichen Intellekt.
Tatsächlich ist die Unterscheidung der eigenen Position des Stephanos von derjenigen Plotins eine typische Formulierung der nach-plotinischen Neuplatoniker: Plotin habe darin unrecht gehabt, dass er annimmt, es gebe etwas in unserer Seele, dass vom Einfluss durch den Körper ganz frei und insofern in seinem Denken nie eingeschränkt sei; richtiger sei, dass unser Denken letztlich immer (irgendwie) zeitlich ist, auch im höchsten Vermögen unserer Seele. Die Position von Proklos’ Nachfolger Marinos von Neapolis (Nablus) könnte demgegenüber betont haben, dass es Aristoteles um den transzendenten Seelengrund gehe. Dagegen ist die peripatetische Position des Alexander von solchen neuplatonischen Darstellungen sehr verschieden, da er tatsächlich den aktiven Intellekt als eine überindividuelle Instanz versteht, die die Gedanken der einzelnen Menschen hervorbringt (vgl. später Ibn Rušd/Averroes, der freilich auch den möglichen Intellekt für überindividuell hält; Zitat Nummer 474). Das liegt u.a. daran, dass er nicht, wie die Neuplatoniker, meint, dass die eine Seele in vielen individuellen Instanzen auftreten könne (vgl. dazu z.B. Priskian in Zitat Nummer 988).
Themen:
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Mensch und Seele
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Doxographie
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Geist (Nous)
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Neuplatonismus
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Aktiver Geist