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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Boethius, Anicius Manlius Severinus: Der Trost der Philosophie I Prosa 1. 3

Original:

Boethius schildert die Erscheinung der tröstenden Philosophie
[1] Astitisse mihi supra verticem visa est mulier reverendi admodum vultus oculis ardentibus et ultra communem hominum valentiam perspicacibus [...], statura discretionis ambiguae. Nam nunc quidem ad communem sese hominum mensuram cohibebat, nunc vero pulsare caelum summi verticis cacumine videbatur. [...]
[2] Quae ubi poeticas musas vidit nostro assistentes toro fletibusque meis verba dictantes, commota paulisper [...]: Quis, inquit, has scenicas meretriculas ad hunc aegrum permisit accedere, quae dolores eius non modo ullis remediis foverent, verum insuper dulcibus alerent venenis? [...] At si quem profanum [...] blanditiae vestrae detraherent, minus moleste ferendum putarem. [...] Hunc vero eleaticis atque academicis studiis innutritum? Sed abite potius, o Sirenae, usque in exitium dulces meisque eum musis curandum sanandumque relinquite. His ille chorus increpitus [...] limen tristis excessit. [...]
[3] Haud aliter tristitiae nebulis dissolutis hausi caelum et [...], ubi in eam deduxi oculos intuitumque defixi, respici nutricem meam [...] philosophiam.

Quelle: Boethius, Anicius Manlius Severinus: Der Trost der Philosophie /Consolatio philosophiae (cons.) I Prosa 1. 3.
Edition: Boethius, De consolatione philosophiae. Opuscula theologica. Edidit C. Moreschini, München 2000.

Auslegung:

Mit diesen Worten beginnt Boethius, der wichtigste lateinische Vertreter der aristotelisch-platonischen Tradition in der Spätantike, sein berühmtestes Werk, den „Trost der Philosophie“. Boethius schildert, wie ihm die Philosophie in Frauengestalt erscheint, er sie aber, in seine Sorgen und äußerlichen Trost versunken, nicht erkennt. Die Philosophie erscheint als eine tröstende Gesprächspartnerin, was eine bemerkenswerte Parallele zu Gregor von Nyssas Dialog mit Makrina (Zitat Nummer 848) darstellt. Boethius’ Gesprächspartnerin trägt aber typische Merkmale der Philosophie, besonders den durchdringenden Blick und die Weite zwischen Himmel und Erde, die sie mit dem menschlichen Leben verbindet. Trotzdem erkennt Boethius sie erst, als seine Trauer durch die Vernunft ein Stück weit eingeordnet wurde, was sich an der Vertreibung der „poetischen Musen“ zeigt, die auf nicht rationaler Ebene eine Tröstung versuchten. Erst dann ist sein Blick so klar, dass er seine eigene Trösterin, die ihm selbst innewohnende Philosophie, erkennen kann.

Themen:

  • Antike Philosophie II
  • Philosophie
  • Wege des Ich
  • Frauen in der Philosophie
  • Medizin für die Seele
  • Trost und Philosophie

[1] Es schien mir, als ob über mir eine Frau hinzuträte von höchst ehrwürdigem Antlitz, mit funkelnden und über das gewöhnliche Vermögen der Menschen durchdringenden Augen. [...] Ihr Wuchs war von wechselnder Größe; denn bald zog sie sich zum gewöhnlichen Maß der Menschen zusammen, bald schien sie mit dem Scheitel den Himmel zu berühren. [...]
[2] Als sie die poetischen Musen, die mein Lager umstanden und meiner Tränenflut Worte liehen, erblickte, sprach sie etwas erregt und mit finster flammenden Blicken [...]: ,Wer hat diesen Dirnen der Bühne den Zutritt zu diesem Kranken erlaubt, die seinen Schmerz nicht nur mit keiner Arznei lindern, sondern ihn obendrein mit süßem Gifte nähren? [...] Wenn eure Schmeicheleien einen Uneingeweihten [...] ablenkten, so würde ich das mit mehr Gleichmut ertragen. [...] Doch ist dieser nicht mit den Studien der Eleaten und Akademiker erzogen worden? Drum verschwindet besser, ihr Sirenen, die ihr süß seid bis zum Verderben, überlasst ihn meinen Musen zur Pflege und zur Heilung. [...] So gescholten ging jener Chor [...] traurig über die Schwelle hinaus. [...]
[3] Als die Nebel der Traurigkeit auf keine andere Weise aufgelöst waren, sog ich den Anblick des Himmels ein und [...] erblickte, als ich die Augen auf sie richtete und meinen Blick auf sie heftete, meine alte Nährerin [...], die Philosophie.

Übersetzer: Gothein/Gigon/Gegenschatz, leicht angepasst von Matthias Perkams