Perkams-Zitatenschatz.de

Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Augustinus von Hippo: Der Gottesstaat V 9 (p. 205, 5-8); V 10 (p. 208, 16-19; 209, 16-20 und 29-31)

Original:

Augustinus löst das somit entstehende Problem von Gottes Vorwissen und Freiheit, indem er erklärt, dass Gott Entscheidungen des Willens nur als solche vorab wissen kann, wenn es tatsächlich Willensentscheidungen sind
[1] Nos [...] deum dicimus omnia scire antequam fiant, et voluntate nos facere, quicquid a nobis non nisi volentibus fieri sentimus et novimus. [...]
[2] Multa enim facimus, quae si nollemus, non utique faceremus. Quo primitus pertinet ipsum velle; nam si volumus, est, si nolumus, non est. [...] Non ergo propterea nihil est in nostra voluntate, quia deus praescivit quid futurum esset in nostra voluntate. Non enim, qui hoc praescivit, nihil praescivit, [...] sed aliquid praescivit. [...]
[3] Proinde non frustra sunt leges obiurgationes laudes et vituperationes, quia et ipsas futuras esse praescivit.

Quelle: Augustinus von Hippo: Der Gottesstaat /De civitate dei V 9 (p. 205, 5-8); V 10 (p. 208, 16-19; 209, 16-20 und 29-31).
Edition: Augustinus, De civitate dei: Sancti Aurelii Augustini De civitate dei libri. Ad fidem quartae editio- nis Teubnerianae quam a. 1927–1928 curaverunt G. Dombart / A. Kalb paucis emendatis mutatis additis. Tomus 1–2 (CCL 47–48), Turnhout 1955.

Auslegung:

In diesem Text finden wir Augustinus’ eigene Lösung des Problems von Gottes Vorwissen aller Handlungen und der menschlichen Freiheit, wie er es in den Zitaten Nr. 611 und 563 formuliert hatte. Augustinus löst das Problem, indem er erklärt, dass Gott Entscheidungen des Willens nur als solche vorab wissen kann, wenn es tatsächlich Willensentscheidungen sind. Es muss also Willensentscheidungen tatsächlich geben, wenn Gott sie vorher wissen kann, und daher muss Gott sie in den Lauf der Welt vorwissend eingeordnet haben, ohne dass er sie bestimmt. Diese Lösung unterscheidet sich vom Umgang mit demselben Problem, wie wir sie z.B. bei Boethius finden, der ein Zitat Nummer 687, ebenfalls mit Verweis auf Cicero, das gleiche Problem formuliert. Denn Boethius löst (in Zitat Nummer 303) das Problem, indem er den Begriff von Gottes Wissen als außerzeitlich definiert: Gott weiß für ihn daher, wofür wir uns entscheiden, immer dann, wenn wir uns dafür entscheiden. Dagegen verweist Augustinus auf die Wahrheitsbedingung von Gottes Vorwissen: Es kann nur dann wahr sein, wenn tatsächlich das, was er vorhersieht, auf die Weise – nämlich als freie Willensentscheidung – geschieht, die er vorhersieht.

Frage: Welche Lösung von Ciceros Problem finden Sie überzeugender, die des Boethius oder die des Augustinus?

Themen:

  • Freiheit
  • Vorwissen
  • Gott und die Welt
  • Apologetik
  • Determinismus
  • Vorherbestimmtheit
  • Schicksal (Fatum)

[1] Wir [...] behaupten, dass Gott alles weiß, bevor es geschieht, und dass wir durch unseren Willen alles bewirken, von dem wir fühlen und wissen, dass es nur durch uns als Wollende bewirkt wird. [...]
[2] Denn wir bewirken vieles, das wir, wenn wir es nicht wollten, keineswegs bewirken würden. Hierzu gehört zunächst einmal das Wollen selbst; denn wenn wir wollen, dann ist es da, wenn wir nicht wollen, dann ist es nicht da. [...] Also ist nicht deswegen nichts in unserem Willen, weil Gott vorher wusste, was in unserem Willen sein wird. Denn der, der das vorher wusste, wusste nicht nichts vorher, [...] sondern er wusste etwas vorher.
[3] Folglich sind die Gesetze, der Tadel, das Lob und die Kritik nicht vergeblich, weil er vorher wusste, dass sie da sein werden.

Übersetzer: Matthias Perkams