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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Boethius von Dakien: Über das höchste Gut (p. 374, 135-139. 374, 149-375, 164)

Original:

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[1] Et inter operationes virtutis intellectivae, si aliqua est optima et perfectissima, omnes naturaliter sunt propter illam. Et cum homo est in illa operatione, est in optimo statu qui est homini possibilis. Et isti sunt philosophi, qui ponunt vitam suam in studio sapientiae. [...]
[2] Est etiam philosophus virtuosus moraliter loquendo propter tria. Unum est quod ipse cognoscit turpitudinem actionis, in qua consistit vitium, et nobilitatem actionis, in qua consistit virtus. [...] Secundum est quia qui gustavit delectationem maiorem spernit omnem delectationem minorem; philosophus autem gustavit delectationem intellectualem in speculando veritates entium, quae est maior quam delectatio sensus; ideo spernit delectationes sensibiles. [...] Tertium est quia in intelligendo et speculando non est peccatum, in simpliciter enim bonis non est possibilis excessus et peccatum; actio autem philosophi est speculatio veritatis; ideo philosophus est facilius virtuosus quam alios.

Quelle: Boethius von Dakien: Über das höchste Gut /De summo bono (p. 374, 135-139. 374, 149-375, 164).
Edition: Boetius de Dacia, Opuscula: De Aeternitate Mundi. De Summo Bono. De Somniis. Édition par Niels Jørgen Green-Pedersen et al. Hauniae: Gad 1976.

Auslegung:

Boethius von Dakien, um 1260/70 Hochschullehrer an der Philosophischen bzw. Artisten-Fakultät zu Paris, erklärt hier ein philosophisches Glücksideal, so wie es auch sein Kollege Alberich von Reims vertritt (Zitat Nummer 50). Während Alberich allerdings vorwiegend mit Zitaten operiert, entwickelt Boethius von Dakien auch philosophische Argumente dafür, dass es ein spezifisches philosophisches Glücksideal gibt. Nachdem er dieses Ideal zuvor ontologisch mit dem besonderen Rang der Vernunft für den Menschen begründet hat (Zitat Nummer 770), liefert er hier ethische Gesichtspunkte, die seine Annahme rechtfertigen. Nach Punkt [2] sind dies
- das ethische Bewusstsein für die eigenen Fehler und Tugenden, welche die Philosophie vermittelt,
- sodann die Freude, welche die Philosophie vermittelt und die jede andere Freude übertrifft; das ist eine Ausarbeitung von Aristoteles’ Position, dass die größte der Freuden die ist, welche die beste charakterliche Haltung begleitet (Zitat Nummer 140),
- drittens, dass die Tätigkeit, durch welche die Philosophen glücklich werden, nämlich die intellektuelle Betrachtung, anders als andere glücklich machende Tätigkeiten frei von Sünde sei. Hier steht natürlich die durch Aristoteles (Zitat Nummer 442), Averroes (Zitat Nummer 768) und Albertus Magnus (Zitat Nummer 769) vermittelte These im Hintergrund, dass das philosophische Glück wesentlich in der wissenschaftlichen Forschung selbst besteht.

Themen:

  • Wege des Ich
  • Averroismus
  • Ethik
  • Glückseligkeit (Eudaimonia)
  • Gutes Leben
  • Höchstes Gut
  • Mittelalterliche Philosophie
  • Philosophie
  • Wissen

[1] Und wenn unter den Tätigkeiten der Vernunftseele irgendeine die beste und vollkommenste ist, sind alle natürlicherweise um ihretwillen. Und wenn sich ein Mensch in dieser Tätigkeit befindet, befindet er sich im besten Zustand, der dem Menschen möglich ist. Und diejenigen sind Philosophen, die ihr Leben dem Bemühen um Weisheit widmen.
[2] Auch ist der Philosoph aus drei Gründen im moralischen Sinne tugendhaft. Einer ist, dass er die Schändlichkeit eines Handelns erkennt, indem ein Laster besteht, und den edlen Charakter eines Handelns, in dem Tugend besteht […]. Das zweite ist, dass der, der eine höhere Tugend gekostet hat, jede geringere Freude verachtet. Der Philosoph aber hat die intellektuelle Freude gekostet, indem er die Wahrheiten des Seins geschaut hat […]. Daher verachtet er sinnliche Freuden. […] Das Dritte ist, dass es im Denken und Betrachten keine Sünde gibt. Denn bei etwas schlechthin Gutem sind ein Übermaß und eine Sünde nicht möglich. Das Handeln des Philosophen ist aber das Betrachten der Wahrheit. Daher ist der Philosoph auf leichtere Weise tugendhaft als andere.


Übersetzer: Matthias Perkams