Ibn Sīnā (Avicenna; 980-1037) erklärt den Unterschied von Existenz und Essenz
[1] ,Existent‘ (mawğūd), ,positiv bestehend‘ und ,wirklich seiend‘ sind synonyme Begriffe, die eine Bedeutung haben – und unzweifelhaft ist ihre Bedeutung in der Seele desjenigen präsent, der dieses Buch liest. ,Ding‘ (šayyʾ) und das, was gleichbedeutend ist, hat gewiss in allen Sprachen eine andere Bedeutung; denn jedes Ding hat eine Wesenheit (ḥaqīqa), durch die es das ist, was es ist (so hat das Dreieck die Wesenheit, ein Dreieck zu sein, und „weiß“ die Wesenheit, weiß zu sein), und diese nennen wir manchmal die „spezifische Existenz“, ohne dass dadurch die Bedeutung „positiv bestehende Existenz“ bezeichnet würde. [...] Es ist klar, dass jedes ,Ding‘ eine spezifische Wesenheit besitzt, nämlich seine Washeit (māhīya). Es ist zugleich bekannt, dass die für jedes ,Ding‘ spezifische Wesenheit verschieden ist von der Existenz, die synonym ist mit positivem Bestehen.
[2] Der Grund dafür ist folgender: Wenn Du sagst, "die Wesenheit von diesem oder jenem existiert entweder in den Einzeldingen oder in den Seelen oder absolut genommen, indem letzteres die ersten beiden umschließt", dann kommt dem eine bestimmte verständliche Bedeutung zu. Wenn Du aber sagen würdest "die Wesenheit von diesem oder jenem ist die Wesenheit von diesem oder jenem", oder: "Die Wesenheit von diesem oder jenem ist eine Wesenheit", so ist dies eine Tautologie, die keine neue Kenntnis verleiht.
Ibn Sīnā erklärt den Unterschied von Existenz und Essenz
Der Grund dafür ist folgender: Wenn Du sagst, die Wesenheit von diesem oder jenem existiert entweder in den Einzeldingen oder in den Seelen oder absolut genommen, indem letzteres die ersten beiden umschließt, dann kommt dem eine bestimmte verständliche Bedeutung zu. Wenn Du aber sagen würdest: Die Wesenheit von diesem oder jenem ist die Wesenheit von diesem oder jenem, oder: Die Wesenheit von diesem oder jenem ist eine Wesenheit, so ist dies eine Tautologie, die keine neue Kenntnis verleiht.
Yūsuf al-Baṣīr überliefert Definitionen von Grundbegriffen aus dem muʿtazilitischen Kalām
[1] Die Definition eines Begriffes und sein Wesen (ḥaqīqa) beziehen sich auf dasselbe. Somit lautet die Definition von ,etwas‘ (šayy): ,das, was man wissen kann und worüber man eine Aussage treffen kann‘. Es macht also keinen Unterschied, ob wir sagen ,etwas‘ oder ,Gegenstand des Wissens‘. In der Sprache der Mutakallimūn lautet dies ,an-sich‘ (ḏāt). [...]
[2] Das ,etwas‘ teilt sich in das ,existierende‘ (mawǧūd) und das ,nicht existierende‘ (maʿdūm). [...] Und das ,Existierende‘ teilt sich in die zwei Teile ,ewig‘ und ,neu entstanden‘ (muḥdaṯ). Das ,Ewige‘ ist das, dessen Existenz keinen Anfang hat, das Neu-Entstandene hingegen dasjenige, dessen Existenz einen Anfang hat. [...] Das ,Neu-Entstandene‘ unterteilt sich in Atome (ǧawhar) und Akzidenzien. [...] Wo immer sich ein Atom befindet, besetzt es eine Position im Raum.