Stephanos von Alexandria (um 600) unterscheidet aufgrund einer Reflexion über Aristoteles‘ Aussagen zu Tieren zwei Typen des Vorstellens
Aber gewiss haben auch die Bienen ein Vorstellen. Denn sie kennen ihre Bienenstöcke und lassen dort ihren Honig zurück. Wenn also die Evidenz lehrt, dass sie ein Vorstellen haben, wie kann Aristoteles sagen, dass sie kein Vorstellen haben? Das ist die Frage. Auf sie antworten wir, dass das Vorstellen auf zwei Weisen vorkommt, das eine als erinnerndes, das andere als lernfähiges, durch das wir lernen. Dieses hat auch der Papagei, denn durch es lernt er die menschlichen Worte. Welches Vorstellen spricht also Aristoteles den genannten Lebewesen ab? Und wir sagen: nicht das erinnernde, sondern das lernfähige.
Ein weiterer Aspekt, den Stephanos einführt, betrifft die Fähigkeit des Vorstellens, aufgefasste Formen zu kombinieren
[1] Wie nun? Fingiert das Vorstellen nicht manches, was die Sinneswahrnehmung nicht kennt? […]. Folglich fingiert das Vorstellen auch, was die Sinneswahrnehmung nicht kennt und ist ohne Sinneswahrnehmung aktiv. Das ist die Frage. Wir sagen dazu: Auch wenn es fingiert, nimmt es die Ausgangspunkte wieder aus der Sinneswahrnehmung. Denn weil jemand den Bock und den Hirsch je für sich gesehen hat, nahm es diese Ausgangspunkte, die einfach sind, von der Sinneswahrnehmung und fingierte das Zusammengesetzte. Wenn es einen zum Himmel reichenden Menschen fingiert, so sah es doch vorher einen einzelnen Menschen. […]
[2] Wie kann Aristoteles nun sagen, dass das Vorstellen in Bezug auf die Wahrnehmungsobjekte an sich immer wahr ist, nachdem er gesagt hatte, dass das Vorstellen nicht immer wahr ist […]? Und dies ist die Frage. Dazu ist zu sagen, dass das Vorstellen auf zwei Weisen geschieht, die eine, die nur die Formen aufnimmt und wie etwas Aufnehmendes ist, die andere, die sich ausmalt, was sie will. Die die Formen aufnehmende ist nun immer richtig […]. Die sich ausmalende, was sie will, ist die Falsches Angebende. Denn weil sie sich nicht-Seiendes ausmalt, ist sie falsch.
Al-Fārābī über den vollkommenen Herrscher
[1] Der Herrscher der vortrefflichen Stadt (al-madīna al-fāḍila) kann nicht irgendein beliebiger Mensch sein, denn Herrschaft setzt zwei Dinge voraus: Das eine von ihnen ist, dass man durch die Veranlagung und die Natur dazu geeignet ist, und das zweite die willentliche Disposition und den Habitus für die Herrschaft, die sich bei jemandem entwickelt, der von Natur aus zu ihr veranlagt ist. [...]
[2] Dieser Mensch ist ein Mensch, über den überhaupt kein Mensch herrschen kann. Dieser Mensch ist nur ein Mensch, der vervollkommnet wurde und aktuell Intellekt und Denkobjekt geworden ist, dessen Imaginationsvermögen (al-quwwa al-mutaḫayyila) von Natur aus [...] dazu befähigt ist, entweder im Wachen oder im Schlaf vom aktiven Intellekt (al-ʿaql al-faʿʿāl) die Partikularia [...] und auch die Denkobjekte zu empfangen, indem es sie nachahmt. [...]
[3] In der Tat erwirbt jeder Mensch, dessen passiver Intellekt durch alle Denkobjekte vervollkommnet wurde sowie aktueller Intellekt und aktuelles Denkobjekt geworden ist [...], einen bestimmten aktuellen Intellekt (ʿaql bi-l-fiʿl), dessen Rang ein Rang über dem passiven Intellekt ist, der vollkommener und mehr von der Materie getrennt ist [...]. Er wird ,erworbener Intellekt‘ (ʿaql al-mustafād) genannt.
Al-Fārābī über den vollkommenen Herrscher als Empfänger von Offenbarung
[1] Dieser Mensch ist der Mensch, dem der aktive Intellekt innewohnt. Geschieht dies in beiden Teilen seines Vernunftvermögens, nämlich im theoretischen und im praktischen, und dann noch in seinem Imaginationsvermögen, dann ist dieser Mensch jemand, dem eine Offenbarung zuteil werden wird (yūḥā ilaihi), und Allah – er ist hoch und erhaben – wird ihm die Offenbarung (yūḥī ilaihi) vermittels des aktiven Intellekts zuteil werden lassen. [...]
[2] Auf diese Weise [...] wird er ein Weiser, ein Philosoph (ḥakīm failasūf) und von vollkommener Intelligenz, nämlich durch den göttlichen Intellekt in ihm. Und durch die Emanation von diesem zu seinem Imaginationsvermögen wird er zum Propheten (nabīy). [...]
[3] Dies ist der Herrscher, über den überhaupt kein anderer Mensch herrschen kann, er ist der Imam (al-imām); er ist der erste Herrscher der vortrefflichen Stadt, er ist der Herrscher der vortrefflichen Nation und der Herrscher der bewohnbaren Erde.
Ibn Sīnā ergänzt den Gemeinsinn und die Formen des Vorstellens weiter und fasst sie zur Gruppe der fünf inneren Sinne zusammen
[1] Nun wissen wir aber in unserer Natur, dass wir Sinnesobjekte nicht gemäß der Form, die wir außen sehen, untereinander kombinieren und voneinander unterscheiden. […] Es ist also nötig, dass es in uns eine Kraft gibt, durch die wir dies tun. Sie wird, wenn der Intellekt sie verwendet, Denkkraft genannt, und, wenn ein tierisches Vermögen sie verwendet, Vorstellungskraft.
[2] Ferner urteilen wir bisweilen über Sinnesobjekte durch Intentionen, deren Naturen zum Teil gar nicht sinnlich wahrnehmbar sind, […] so wie Feindschaft, Schlechtigkeit und Abneigung, welche das Schaf in der Form des Wolfs wahrnimmt, und überhaupt die Intention, die es vor ihm fliehen lässt, sowie die Eintracht, die es bei seiner Gefährtin wahrnimmt. […] Es handelt sich um Dinge, welche die tierische Seele wahrnimmt, ohne dass die Sinneswahrnehmung auf irgendetwas davon hinweist. Also ist das Vermögen, durch welches dies aufgefasst wird, eine andere Kraft und wird Einschätzungskraft genannt (al-wahm = aestimatio).
Ibn Sīnā äußert sich im aristotelischen Sinne zum menschlichen Handeln und begründet dies mit der menschlichen Selbstbeobachtung
Wenn die Lebewesen nicht etwas begehren, das sie in ihrem Begehren oder in ihrer Vorstellung auffassen oder nicht auffassen, gelangen sie nicht dazu, dies durch eine Bewegung zu erstreben. […] Sieh, die Leute kommen im Auffassen von etwas, das sie sinnlich wahrnehmen und sich vorstellen, darin überein, dass sie es sinnlich wahrnehmen und sich vorstellen. Aber sie unterscheiden sich darin, dass sie das begehren, was sie sinnlich wahrnehmen. Und die Situation des einzelnen Menschen hierin ist gewiss unterschiedlich. So stellt man sich Nahrung vor, und begehrt sie in einem Moment des Hungers, und begehrt sie nicht in einem Moment der Sättigung. Und auch die Schönheit der Sitten begehrt jemand nicht, wenn er sich schändliche Freuden vorstellt, und der andere begehrt sie. Und diese beiden Zustände [des Begehrens und Nicht-Begehrens] hat nicht der Mensch allein, sondern alle Lebewesen.
Ibn Rušd (Averroes) stellt die Vorteile der Annahme eines universalen Intellekts dar
[1] Wenn das gedachte Objekt bei mir und bei dir in jeder Hinsicht eines wäre, ergäbe sich folgende Konsequenz: Wenn ich irgendein Denkobjekt wüsste, dann wüsstest du es auch – und viele andere Unmöglichkeiten. Wenn wir aber annähmen, es sei vieles, dann wäre die Konsequenz, dass das gedachte Objekt bei mir und bei dir der Art nach eine, dem Individuum nach aber zwei wäre. So hätte das gedachte Objekt ein [weiteres] gedachtes Objekt, und so ginge es fort bis ins Unendliche. Es wäre dann unmöglich, dass ein Schüler vom Lehrer lernt, es sei denn, das Wissen, das im Lehrer ist, sei ein Vermögen, welches das Wissen, das im Schüler ist, erzeugt und erschafft – auf die Weise wie das konkrete Feuer ein anderes ihm der Art nach ähnliches Feuer erzeugt – was unmöglich ist. [...]
[2] Wenn wir daher annehmen, das gedachte Objekt, das bei mir und bei dir ist, sei vieles in dem Subjekt, dem gemäß es wahr ist, nämlich als vorgestellte Formen, und eines in dem Subjekt, durch das es Intellekt ist (und das ist der materielle), werden diese Fragen vollkommen gelöst.