Ibn Sīnā/Avicenna (908-1037) betont die Bedeutung der Lehre von der Seele für die Naturwissenschaft
[1] Und weil die Pflanzen und die Tiere als Substanzen in ihrem Wesen durch Form, nämlich die Seele, und Materie, nämlich den Körper und seine Glieder, konstituiert werden, und weil das Erste, worin das Wissen über etwas besteht, das ist, was von Seiten seiner Form kommt, hielten wir es für gut, zuerst über die Seele zu sprechen.
[2] Und dass wir das Wissen über die Seele nicht Stück für Stück darlegen, so dass wir zuerst über die Pflanzenseele und die Pflanzen, so dann über die Tierseele und die Tiere, und dann über die menschliche Seele und den Menschen sprechen, das liegt nur an zwei Gründen:
- Einer davon ist, dass dieses stückweise Vorgehen, das eines nach dem anderen in den Blick nimmt, zu dem gehört, was das Erlangen von Wissen über die Seele schwierig macht; und
- der zweite, dass […] dadurch unvermeidlich die Seelenvermögen abgetrennt werden, deren Art und deren Gattungen je für sich behandelt werden.
Ibn Sīnā erklärt, in neuplatonischer Tradition, die Rolle der Seele als eine abgetrennte Vollendung der Körpers
[1] Nun ist klar, dass die Seele nicht ein Körper ist, sondern ein Teil des Lebewesens und der Pflanze, der eine Form oder wie eine Form oder wie eine Vollendung ist […].
[2] Ferner ist jede Form eine Vollendung, und nicht jede Vollendung eine Form. Der König ist ja die Vollendung der Stadt, und der Kapitän die Vollendung des Schiffs, und doch sind sie keine Formen der Stadt und des Schiffs. Und eine Vollendung, die wesenhaft [von der Materie] abgetrennt ist, ist nicht wirklich eine Form für die Materie und in der Materie. […] Und man ist sich einig, dass diese Sache im Verhältnis zur Materie Form ist, und im Verhältnis zum Kompositum [aus dem Körper und seiner inhärenten Form] Ziel und Vollendung sowie im Verhältnis zur Bewegung Wirkursache und Bewegungskraft.
[3] Und wenn das so ist, dann benötigt die Form eine Beziehung zu einer von der Substanz, die ihretwegen wirklich ist, entfernten Sache und zu einer Sache, kraft derer die an sich in Möglichkeit befindliche Sache wirklich ist. […]
[4] Also ist von daher klar, dass wir, wenn wir zur Erklärung der Seele sagen, dass sie eine Vollendung ist, auf ihren Gehalt hinweisen, der zugleich alle Arten von Seele umfasst.
Ibn Sīnā betrachtet die Sinneswahrnehmung als ein spezifisches Feld der Abstraktion
[1] Jetzt wollen wir über die Vermögen der Sinneswahrnehmung und des Auffassens sprechen, und wir wollen über das sprechen, was zur allgemeinen Rede darüber gehört. Wir sagen also: Es scheint, dass jedes Auffassen nichts anderes als ein Ergreifen der aufgefassten Form auf eine von mehreren Weisen ist. Wenn sich nun das Auffassen auf eine materielle Sache richtet, so ist es das Ergreifen seiner von der Materie in einer bestimmten Weise losgelösten (muğarradatin = abstractam) Form. Aber es gibt verschiedene Arten der Loslösung (al-tağrīdi = abstractionis), und ihre Stufen sind nicht von gleicher Art.
[2] Der materiellen Form stoßen nun aufgrund der Materie akzidentell Zustände und Lagen zu, die nicht zu ihrem Wesen gehören. […] Zum Beispiel ist die menschliche Form bzw. die menschliche Washeit eine Natur, die nicht notwendigerweise die Individuen der ganzen Art in gleicher Weise umfasst. Sie ist ja der Zahl nach eine Sache, und es stößt ihr akzidentell zu, dass sie in diesem und jenem Individuum besteht, so dass sie sich vervielfältigt. Und das trifft auf sie nicht von Seiten ihrer Menschennatur zu. […] Folglich ist eines der Akzidenzien der Menschheit von Seiten der Materie genau diese Art der Vervielfältigung durch Teilung.
Ibn Sīnā erörtert, wie die Abgabe und Aufnahme einer abstrahierten Form bei der Sinneswahrnehmung genügt
[1] Und wir sagen: In der Seele wird eine Form des Gesehenen aufgenommen, die der Form in diesem ähnelt, aber nicht diese Form selbst ist. Und auch das, was aufgrund von Annäherung wahrgenommen wird, wie das Gerochene und Berührte, erreicht das Wahrnehmende durch diese Form davon. Aber es entsteht in ihm nur etwas dieser Form Ähnliches.
[2] Von denjenigen der Sachen jedoch, die ein Erleiden hervorrufen, gibt es einen Weg durch Berührung. Und unter ihnen muss etwas, wenn die Berührung entsteht, geschädigt werden, damit eine Spur davon zurückgelassen wird.
[3] Und dies ist an diesem Ort derjenige Strahl, der zu dessen Verbindung mit der Form des Gesehenen erforderlich ist. So kann dasjenige, was die Form aufweist, ein Abbild seiner Form, das dem in der Ferne Auswerfenden als schwaches Abbild ähnlich ist, zu etwas von ihm Verschiedenem hin auswerfen, wenn das Licht stark wird.
Ibn Sīnā beschreibt die Struktur und den Status des menschlichen Intellekts in neuplatonischer Weise
[1] Wir sagen nun: Die Seele denkt, indem sie in sich selbst die von der Materie losgelöste Form des Gedachten auffasst. Und das Sein der losgelösten Form besteht entweder dadurch, dass der Intellekt sie loslöst; oder weil diese Form in sich selbst losgelöst von der Materie ist. […] Und die Seele erfasst formend ihr Wesen, indem sie es zum Intellekt, zum Denkenden und zum Gedachten macht. Und im Hinblick darauf, dass sie diese Formen formt, so macht sie sie nicht so. Sie ist ja in ihrer Substanz ewig im Körper ein Intellekt der Möglichkeit nach, auch wenn sie in bestimmten Gegenständen zum Akt übergeht. […]
[2] Und das Auffassen davon ist das denkende Wissen, indem nur eine Vollendung zustande kommt, wenn [die Objekte] zusammengesetzt und geordnet werden. Und die zweite [Stufe] ist das einfache Wissen, dem es nicht zukommt, dass es in der Seele eine Form dafür gibt. Vielmehr ist es eines, von dem die Formen in das für die Formen Empfängliche ausgehen. Und dies ist das schöpferische Wissen für das, was wir denkendes Wissen nennen, und dessen Prinzip. Und dieses liegt in dem Intellektvermögen, das abgelöst von der Seele und den schöpferischen Intellekten ähnlich ist. […]
[3] Und wisse, dass es in dem von diesem beiden reinen Intellekt keinerlei Vielheit gibt und keine Ordnung von Form zu Form. Sondern er ist das Prinzip für jede Form, die von ihm zur Seele hin ausströmt. Und Du musst glauben, dass so das Sein des rein Abgetrennten ist […]. Und unser Intellekt ist der schöpferische Intellekt für die ihm zukommenden Formen, nicht der der die Formen produziert.
Plotin erklärt das Verhältnis der Seele zum Geist, wie das „Wir“ sich zum reinen, überindividuellen Geist – dem Ort der platonischen Ideen – verhält
[1] Und wie verhalten wir uns zum Geist? [...] Nun: Auch diesen haben wir, und zwar oberhalb von uns. Wir haben ihn aber entweder gemeinsam oder jeder für sich allein [...]: gemeinsam, weil er unteilbar und eins und überall derselbe ist, für sich allein, weil ihn trotzdem jeder in seiner ersten Seele ganz besitzt.
[2] Mithin besitzen wir auch die Formen auf zwei Arten, in der Seele quasi entwickelt und quasi voneinander separat, im Geist dagegen alle auf einmal.
[3] Und den Gott, inwiefern besitzen wir ihn? Nun: insofern er auf der geistig erkennbaren Natur, d.h. auf dem wirklichen Sein, aufsitzt; und wir sind von dort aus gesehen das dritte [nämlich hinter dem Gott und dem Geist].
Ibn Rušd (Averroes) erklärt, warum es notwendigerweise (nur) einen universalen Intellekt geben muss
[1] Da nun dies die Definition des materialen Intellekts ist, ist offensichtlich, dass er sich Aristoteles zufolge darin von der ersten Materie unterscheidet, dass er potentiell alle Intentionen der universellen materiellen Formen ist, während die erste Materie potentiell alle konkreten wahrnehmbaren Formen ist, die sie nicht erkennt und nicht erfasst.
[2] Der Grund, aus dem diese Natur unterscheidet und erkennt, die erste Materie dagegen weder erkennt noch unterscheidet, ist der, dass die erste Materie unterschiedliche Formen aufnimmt, nämlich individuelle und konkrete, jene dagegen universale aufnimmt. Und daher wird klar, dass diese Natur [des Intellekts] nichts Konkretes ist, weder ein Körper noch ein Vermögen in einem Körper, denn wenn es so wäre, würde sie die Formen aufnehmen, insofern sie geteilt und konkret sind. Und wenn das der Fall wäre, dann wären die Formen, die in ihr existieren, [nur] potentielle Denkobjekte.