Der jüdische Denker Yūsuf al-Baṣīr (9. Jhdt.), begründet, im Einklang auch mit vielen Muslimen, ein rationales Vorgehen auch bei Anerkennung prophetischer Verkündigung
Die Zustimmung zu dem, was die Propheten – der Friede sei mit ihnen – verkündigten, darf nicht zurückgewiesen werden. Deshalb ist die Untersuchung (naẓar) ihrer Wunderzeichen notwendig. Der Charakter, den das Wunderzeichen als ein Hinweis auf Wissen besitzt, ist sein Herabkommen von [Gott] dem Weisen, dessen Absicht es ist, durch dieses Geschehen [den Propheten] zu beglaubigen. [...] Es wäre aber absurd, wenn wir die Bekräftigung hiervon auf den Anspruch des Propheten selbst zurückführen würden, denn das Wissen über seine Richtigkeit hängt ab vom Wissen (ʿilm) über die bestätigende Weisheit [Gottes].
Die Notwendigkeit von Theologie – eine Position aus der jüdischen Muʿtazila
[Gott] hat unseren Verständen eingepflanzt und verpflichtend gemacht, die Tatsachen zu untersuchen, welche auf sein Bestehen hinweisen und zu dem Wissen über sein Wesen führen. [...] Wer die Untersuchung unterlässt, weil es ihm schwierig erscheint, der verharrt in Untätigkeit, und wer sich damit zufriedengibt, der versündigt sich an seiner Seele.
Der Gottesbeweis der Muʿtaziliten stellt eine Variante des kosmologischen Gottesbeweises dar
Gott der Erhabene ist nicht sichtbar. Somit ist der Weg, Ihn zu erkennen, Sein Handeln, im Vergleich zu welchem es uns unmöglich ist, etwas ähnliches wie er zu erzeugen, zum Beispiel Körper und dergleichen mehr. Es ist zwingend, dass wir zuerst das Neuentstanden-Sein (ḥudūṯ) dieser Dinge erkennen und danach deren Abhängigkeit von einem weisen Neuerschaffer (muḥdiṯ) erweisen.
Yūsuf al-Baṣīr überliefert Definitionen von Grundbegriffen aus dem muʿtazilitischen Kalām
[1] Die Definition eines Begriffes und sein Wesen (ḥaqīqa) beziehen sich auf dasselbe. Somit lautet die Definition von ,etwas‘ (šayy): ,das, was man wissen kann und worüber man eine Aussage treffen kann‘. Es macht also keinen Unterschied, ob wir sagen ,etwas‘ oder ,Gegenstand des Wissens‘. In der Sprache der Mutakallimūn lautet dies ,an-sich‘ (ḏāt). [...]
[2] Das ,etwas‘ teilt sich in das ,existierende‘ (mawǧūd) und das ,nicht existierende‘ (maʿdūm). [...] Und das ,Existierende‘ teilt sich in die zwei Teile ,ewig‘ und ,neu entstanden‘ (muḥdaṯ). Das ,Ewige‘ ist das, dessen Existenz keinen Anfang hat, das Neu-Entstandene hingegen dasjenige, dessen Existenz einen Anfang hat. [...] Das ,Neu-Entstandene‘ unterteilt sich in Atome (ǧawhar) und Akzidenzien. [...] Wo immer sich ein Atom befindet, besetzt es eine Position im Raum.
Yūsuf al-Baṣīr entwickelt einige begriffliche Klärungen, um den muʿtazilitischen Gottesbeweis vorzubereiten
[1] Über das Bestehen des Neu-Machers. Der Beweis hierfür beruht auf vier Grundsätzen, wovon einer lautet: Es gibt Neu-Entstandenes. Der zweite von ihnen lautet: Dies benötigt uns für seine Neu-Entstehung. Der dritte von ihnen lautet: Die Ursache dafür, dass es uns benötigt, ist sein Sein als Neu-Entstandenes. Der vierte von ihnen lautet: Der Körper hat mit diesen das Neu-Entstandensein gemeinsam, folglich muss er mit ihnen auch das Benötigen eines Herstellers gemeinsam haben. [...]
[2] Der Unterschied zwischen unserem Aufstehen und der Größe unseres Körpers ist zwingend bekannt. Denn wenn wir nicht aufstehen wollen, dann bleibt das Sitzen bestehen, vorbehaltlich normaler Bedingungen. Anders hingegen bei etwas, das wir zwingend vorfinden, wie etwa die Farbe oder die Körpergröße.
Ein muʿtazilitischer Beweis für die Einzigkeit Gottes
Würde es neben Gott einen zweiten geben, dann müssten dessen Attribute mit Seinen Attributen identisch sein, und zwar deshalb, weil diese auf ihn selbst zurückzuführen sind und nicht auf eine Ursache. Denn der [göttliche] Wille [...] ist nicht etwa bei einer der beiden Gottheiten spezifisch vorhanden und bei der anderen nicht.
Diskussionslage zur Vereinbarkeit von „göttlicher Anordnung und Vorherbestimmung“ (<i>al-qaḍāʾ wa-l-qadar</i>) bis zu seiner Zeit
[284] Das Problem [...] von göttlicher Anordnung und Vorherbestimmung [...] gehört zu den schwierigsten Problemen in Bezug auf das Gesetz. Denn wenn die Argumente der Überlieferung hierüber betrachtet werden, findet sich ein Widerspruch; und ebenso ist es mit den verstandesmäßigen Argumentationen. [285] [...] Was das Buch (= den Koran) betrifft, so gibt es in ihm viele Verse, die in ihrer Allgemeinheit ein Argument dafür sind, dass jede Sache der Vorherbestimmung unterliegt, sowie, dass der Mensch in seinen Handlungen determiniert ist. Aber es gibt hierin ebenfalls viele Verse, die ein Argument dafür darstellen, dass dem Menschen durch seine Handlungen ein Erwerben [von Verdiensten oder von strafwürdigen Taten] zukommt und dass er in seinen Handlungen nicht determiniert ist. [...]
[290] Und deswegen spalteten sich die Muslime wegen dieser Frage in zwei Gruppen: Eine Gruppe, die überzeugt war, dass das Erwerben des Menschen die Ursache für den Ungehorsam und das rechte Handeln ist und dass ihm aufgrund hiervon Strafe und Lohn zugebilligt wird – das ist die Muʿtazila; und eine Gruppe, die vom Gegenteil überzeugt ist, nämlich dass der Mensch in seinen Handlungen determiniert und gezwungen ist – das ist die Ğabriyya (= die Deterministen). [291] Die Ašʿariyya [...] hingegen sagt, dass dem Menschen eine Erwerbung zukomme, dass aber das hierdurch Erworbene und der Erwerbende von Allah geschaffen würden; und dies ergibt keinen Sinn. [...] Denn der Knecht (Allahs) ist dann unbedingt in seinem Erwerben determiniert. [...] [293] Und wenn der Mensch in seinen Handlungen determiniert ist, dann gehören die Gebote zum nicht Möglichen. [...].
[297] Wir sagen: Offensichtlich sieht das Ziel des Gesetzes keine Trennung zwischen diesen [oben in Text 1 genannten] Überzeugungen vor. [...] Folgendes ist nämlich offensichtlich: Gott hat für uns Fähigkeiten geschaffen, durch die wir Gegenteiliges erwerben können. Weil jedoch das Erwerben hiervon nicht vollständig bei uns liegt, es sei denn, die Ursachen treffen günstig ein, die Gott der Herr zum Dienst für uns außerhalb geschaffen hat, und die Hindernisse hierfür werden [dadurch] aufgehoben, deswegen sind die auf uns beziehbaren Handlungen nur durch beide Aspekte zugleich vollständig. (298) [...] Und diese Ursachen [...] bewirken ebenfalls nicht alleine vollständig die Handlungen, deren Vollzug oder Verhinderung wir wünschen, sondern die [äußere] Ursache ist zu schwach dafür, dass wir eines der beiden Gegenteile wollen. Der Wille ist ja nur das Streben, das in uns aufgrund irgendeiner Vorstellung oder eines Urteils über etwas neu entsteht, und dieses Urteil hängt nicht von unserer Wahl ab, sondern es ist etwas, das bei uns aufgrund desjenigen entsteht, was außerhalb von uns ist. [...]
(299) [...] Es ist also nötig, dass unsere Handlungen nach einer festgelegten Ordnung ablaufen, ich meine, dass sie zu festgelegten Zeitpunkten und in einem festgelegten Raum stattfinden. [...] (301) Und die festgelegte Ordnung, die in den inneren und äußeren Ursachen besteht [...], ist das Anordnung und die Vorherbestimmung, die Gott der Erhabene über seine Diener aufgeschrieben hat; sie ist die ,verborgene Tafel‘.
Der Jude Moses Maimonides weist auf die historischen Ursprünge des Kalām, d.h. der rationalen Theologie seit frühislamischer Zeit, hin
Was diese geringe Kleinigkeit anbelangt, die du von Seiten des Kalām zum Thema der Einheit [Gottes] (tawḥīd) und dem, was damit zusammenhängt, bei einigen Geonim und Karäern findest, so übernahmen sie diese Dinge von den Mutakallimūn aus dem Islam. [...] Des Weiteren sollst du wissen: Alles, was die Richtungen des Islam – wozu die Muʿtaziliten und die Ašʿāriten gehören – zu diesen Themen gesagt haben, sind Meinungen, die auf bestimmten Prämissen beruhen. Diese Prämissen sind den Büchern der [christlichen] Griechen und Syrer entnommen, die einen Widerspruch zu den Meinungen der Philosophen aufbrachten und deren Aussagen entkräfteten.
Maimonides über die philosophischen Möglichkeiten der Theologie
[1] Ich stellte fest, dass die Methode aller Mutakallimūn der Art nach eine einzige Methode ist, [...] weil das Prinzip von allen die Nichtbeachtung der Existenz, so wie sie ist, darstellt, da diese eine Gewohnheit sei, zu der im Verstand etwas Verschiedenes möglich sei. [...] Wenn festgestellt wurde, dass die Welt neu entstanden (muḥdaṯ) sei, wurde festgestellt, dass sie einen Hersteller (ṣāniʿ) habe, der sie neu gemacht habe. [...] Nun ist dies kein gültiger Beweis (burhān qatʿī), außer für jemanden, der nicht den Unterschied zwischen dem Beweis, der Dialektik und einem Fehlschluss kennt. [...] Bei all diesen Argumentationen (adilla) gibt es Zweifel, und in ihnen werden Prämissen verwendet, die nicht bewiesen sind.
[2] Meiner Meinung nach ist das Ziel der Fähigkeit eines argumentativ vorgehenden Gesetzesgelehrten, dass er die Argumentationen (adilla) der Philosophen für die Ewigkeit [der Welt] entkräftet; [...] schließlich weiß jeder scharfsinnige, argumentativ vorgehende Theoretiker, der sich selbst nicht betrügt, dass zu dieser Frage – ich meine bezüglich der Ewigkeit der Welt oder ihres Neugemachtseins – ein gültiger Beweis nicht erbracht werden kann und dass der Verstand vor ihr stehenbleibt.
Der Sunnit ad-Dārimi [gest. 869] kritisiert die Muʿtaziliten bzw. die ihnen nahestehenden Ğahmiten
Sie sprachen große Worte von Gott und schmähten ihn auf schändliche Weise, ließen ihn dumm sein und beraubten ihn nach und nach der Attribute, mit denen er beschrieben ist. Schließlich nahmen sie ihm auch sein Vorherwissen (al-ʿilm as-sābiq), die Rede, das Gehör, den Blick, jegliche Sache.
Al-ʿAšʿarī (gest. 935), eine zentrale Figur der Geschichte des Kalām, referiert eine Gegenposition, welche behauptet, der <i>Koran</i> sei geschaffen
Der Koran ist ein Akzidens auf ,der wohlverwahrten Tafel‘ [vgl. Stunde 2, Nr. 5]; er subsistiert in der Tafel und kann unmöglich aus der Tafel verschwinden. [...] Er ist also auf der Tafel erschaffen. [...] Wenn ihn jemand aufsagt, dann schafft Gott für ihn dieses Aufsagen in diesem Augenblick als eine Erwerbnis des Aussagenden. Also wird der geschaffene [Koran] in diesem Augenblick in einem zweiten Schöpfungsakt geschaffen.