Maimonides über die ursprüngliche Wissenschaftlichkeit des Judentums und die Gründe für ihr Vergessen
Die vielen Wissenschaften über den Nachweis (taḥqīq) dieser Dinge, die es in unserer Religion gab, sind im Lauf der Zeit und aufgrund der Herrschaft ungebildeter Religionen über uns verloren gegangen. [Denn ...] es war verboten, etwas von diesen „Geheimnissen der Tora“ niederzuschreiben und den Menschen zugänglich zu machen, sondern sie wurden diese von herausragenden Einzelnen an Einzelne überliefert.
Die wissenschaftstheoretische Situation des religiösen Menschen, wie sie aus dem Scheitern der Gottesbeweise der Mutakallimūn resultiert, und Maimonides‘ Lösungsansatz
[1] Die Situation von etwas, worüber es keinen Beweis gibt,
[Textvariante a)] bleibt bloß dadurch, dass es ein Problem ist, dass hierüber einer der beiden widersprüchlichen Standpunkte vorrangig angenommen wird.
[Textvariante b)] bleibt bloß wegen seiner Situation als Problem offen, oder es wird hierüber einer der beiden widersprüchlichen Standpunkte vorrangig angenommen.
[2] Und wenn [...] diese Frage, d.h. die nach der Ewigkeit der oder ihrer Neuentstehung, offen bleibt, dann wird für mich von seiten der Prophetie, welche Dinge klärt, die nicht innerhalb der Möglichkeit der Theorie liegen, der Zugang zu ihr angenommen, so wie wir zeigen wollen, dass die Prophetie nicht abzulehnen ist, und zwar gegebenenfalls selbst nicht nach der Meinung derer, die von der Ewigkeit der Welt überzeugt sind.
[3] Und nachdem ich die Möglichkeit unserer Behauptung klargemacht habe, gehe ich nun, ebenfalls mittels eines theoretischen Arguments, zu ihrer Überlegenheit über die Gegenposition über.
Jürgen Habermas erläutert die neurowissenschaftlichen Zweifel am Freiheitsbegriff
[1] Elf führende Neurowissenschaftler […] kündigen an, „in absehbarer Zeit“ psychische Vorgänge wie Empfindungen und Gefühle, Gedanken und Entscheidungen aus physikochemischen Vorgängen des Gehirns erklären und voraussagen zu können. Aufgrund dieser Prognose sei es geboten, das Problem der Willensfreiheit heute schon als eine „der großen Fragen der Neurowissenschaften“ zu behandeln. […]
[2] Wenn die neurologische Forschung heute schon den Schlüssel in der Hand hält, um in naher Zukunft beliebige Handlungsmotive und Abwägungsprozesse aus dem naturgesetzlich determinierten Zusammenwirken neuronaler Vorgänge vollständig zu erklären, müssen wir Willensfreiheit als fiktive Unterstellung betrachten.
Aristoteles über die Methode der ethischen Wissenschaft
[1] Die werthaften und die gerechten Dinge, die die politische [Wissenschaft] untersucht, weichen große Unterschiede und Schwankungen auf, so dass sie anscheinend nur durch Gesetz und nicht von Natur aus so sind. Solche Schwankungen finden wir auch bei den Gütern, da vielen Menschen aus ihnen Schaden entsteht. Denn schon einige sind durch ihren Reichtum zugrunde gegangen, andere durch Tapferkeit.
[2] Angemessen ist also, dass wir, wenn wir über solches und ausgehend von solchem reden, grob und im Umriss die Wahrheit aufzeigen; und wenn wir über etwas reden, was in aller Regel der Fall ist, und ausgehend von solchem, dass wir auch ebensolche Schlussfolgerungen ziehen.
[3] Auf dieselbe Weise muss daher auch jedes Gesagte aufgenommen werden. Denn es ist charakteristisch für einen Gebildeten, dass er in jeder Gattung der Dinge nur so viel Genauigkeit sucht, wie es die Natur des Gegenstands zulässt. Von einem Mathematiker wahrscheinliche Reden zu akzeptieren scheint ganz ähnlich [verfehlt], wie von einem Rhetoriker Beweise zu verlangen.
Albertus Magnus (ca. 1200-1280) diskutiert, Gegenstand welcher Wissenschaft Gott ist
Hauptsächlich [...] wird Gott der Gegenstand der Ersten Philosophie genannt, weil es in ihrem Hauptteil um Gott geht und um die göttlichen Substanzen, die abgetrennt sind. [...] Auf eine zweite Weise wird unter den Wissenschaften das Gegenstand genannt, über welches und über dessen Teile Eigenschaften bewiesen werden. So wird das Seiende das Subjekt der Ersten Philosophie genannt, da ja eines und vieles, Möglichkeit und Wirklichkeit sowie notwendig seiend und möglich seiend vom Seienden bewiesen werden. [...] Hauptsächlich [...] ist Gott der Gegenstand der Theologie, und von ihm her wird sie benannt. Wenn aber ,Gegenstandʻ auf die zweite Weise verstanden wird [...], dann sind Christus und die Kirche der Gegenstand.
Johannes Duns Scotus (ca. 1265-1308) erläutert, inwiefern die philosophische Metaphysik über Gott spricht
Über Gott handelt die Metaphysik nicht als primären Gegenstand. Das wird dadurch bewiesen, dass es neben den Einzelwissenschaften auch eine gemeinsame geben muss, in der alles bewiesen wird, was diesen einzelnen gemeinsam ist. Daher muss es neben den Einzelwissenschaften eine gemeinsame über das Seiende geben, in der die Erkenntnis der Eigenschaften des Seienden überliefert wird; diese Erkenntnis wird in den Einzelwissenschaften vorausgesetzt. Wenn es also eine [Wissenschaft] von Gott gibt, gibt es neben dieser eine vom Seienden qua Seiendem, die auf natürliche Weise gewusst wird. [...] Gott aber wird, auch wenn er nicht der primäre Gegenstand der Metaphysik ist, in dieser Wissenschaft doch auf die edelste Weise betrachtet, auf die er in irgendeiner auf natürliche Weise erworbenen Wissenschaft betrachtet werden kann.
Thomas von Aquin (1224/25-1274) erklärt, inwiefern die christliche Theologie eine Wissenschaft sein kann
Ist die heilige Lehre [d.h. die christliche Theologie] eine Wissenschaft? [...] Man muss sagen, dass die heilige Lehre eine Wissenschaft ist. Aber man muss wissen, dass es zwei Arten von Wissenschaften gibt. Denn es gibt einige, die aus Prinzipien hervorgehen, die im Lichte des natürlichen Intellekts bekannt sind, so wie die Arithmetik, die Geometrie und ähnliches. Es gibt aber einige, die aus Prinzipien hervorgehen, die im Lichte einer höheren Wissenschaft bekannt sind. [...] Und auf diese Weise ist die heilige Lehre eine Wissenschaft, weil sie aus Prinzipien hervorgeht, die im Lichte einer höheren Wissenschaft bekannt sind, die nämlich das Wissen Gottes und der Seligen ist. So wie daher die Musik die Prinzipien glaubt, die ihr vom Arithmetiker überliefert wurden, so glaubt die heilige Lehre die Prinzipien, die ihr von Gott offenbart wurden.
Wilhelm von Ockham (ca. 1280-1347) erklärt, inwieweit der Glaube selbst nicht zur Wissenschaft der Theologie gehört
Jeder, der sich in der Theologie betätigt, kann einen Habitus des Begreifens erwerben. Und mithilfe dieser Habitus [...] können alle dem Theologen nach allgemeiner Regel möglichen Akte erworben werden, mit der einen Ausnahme des Aktes des Glaubens; denn mit ihrer Hilfe kann er predigen, lehren, Seelsorge betreiben, usw. [...] Dass aber ein solcher Habitus [...] keine Wissenschaft im eigentlichen Sinn sein darstellt, ist offensichtlich, denn etwas, dem man nur aufgrund des Glaubens zustimmen kann, weiß man nicht evident. [...] Aber nach Auffassung aller Heiligen und auch derer, die die Gegenposition einnehmen, kann keiner den Glaubenswahrheiten ohne Glauben zustimmen.
Gregor über Origenes’ Unterricht in der Naturphilosophie/Physik
[1] Durch andere Wissenschaften, die naturwissenschaftlichen, erläuterte er jedes einzelne Seiende und zerlegte ihn sehr genau in seine einfachsten Elemente; dann flocht er noch die Natur des Alls, eines jeden seiner einzelnen Teile und den vielgestaltigen Wechsel und die Veränderung der Dinge in der Welt in seine Rede ein, [...] die er teils gelernt, teils selbst herausgefunden hatte über die heilige Ordnung des Alls und die untadelige Natur; so weckte er in unseren Seelen anstelle eines vernunftlosen ein vernünftiges Staunen. Dieses Wissen lehrt die bei allen sehr beliebte Physiologie.
[2] Was soll ich über die heiligen Wissenschaften sagen, die [...] Geometrie und die [...] Astronomie? Jede einzelne prägte er unseren Seelen durch Lehre ein, [...] die eine als Grundlage schlechthin für alles [...], nämlich die Geometrie [...]; er führte uns aber auch durch die Astronomie hinauf bis zu den höchsten Dingen, wie durch eine Leiter, die bis zum Himmel ragt.
Al-Fārābīs Programm einer Aufzählung der Wissenschaften
Unsere Absicht in diesem Buch ist es, die bekannten Wissenschaften einzeln aufzuzählen, und einen Überblick darüber zu geben, was jede einzelne von ihnen enthält, und über die Teile einer jeden von ihnen, die Teile hat, sowie über das, was in jedem Teil vorliegt. Wir legen dies in fünf Kapiteln vor.
Das erste handelt von der Sprachwissenschaft und ihren Teilen.
Das zweite handelt von der Wissenschaft der Logik und ihren Teilen.
Das dritte Kapitel handelt von den mathematischen Wissenschaften. Dies sind die Arithmetik, die Geometrie, die Optik, die mathematische Astronomie, die Wissenschaft der Musik, die Wissenschaft von den Gewichten und die technische Erfindungswissenschaft.
Das vierte Kapitel handelt von der Naturwissenschaft und ihren Teilen sowie von der göttlichen Wissenschaft (ʿilm al-ilāhī) und ihren Teilen.
Das fünfte Kapitel handelt von der politischen Wissenschaft, von der Wissenschaft vom [islamischen] Recht (ʿilm al-fiqh) und von der [rationalen] Theologie (ʿilm al-kalām) [...].
Mit diesem Buch kann jemand zwischen den Wissenschaften einen Vergleich anstellen, so dass er weiß, welche von ihnen besser, nützlicher, wirksamer ist und welche geringer an Wert, weniger zuverlässig und weniger wirksam.
Averroesʼ Zurückweisung von al-Ġazālīs Kritik an der Kausalität
Was die Bestreitung der Wirkursachen betrifft, die im sinnlich Wahrnehmbaren beobachtet werden, so ist dies eine sophistische Rede (qawl sufisṭānī). [...] Wer die Ursachen aufhebt, der hat den Intellekt aufgehoben. Die Fertigkeit der Logik hat zur Voraussetzung, dass es hier Ursachen und Verursachtes gibt und dass es Erkenntnis von diesem Verursachten in vollkommener Weise nur durch die Erkenntnis ihrer Ursachen gibt. Die Aufhebung dieser Dinge vernichtet die Wissenschaft, und hebt sie auf. Und dies bedeutet notwendigerweise, dass es hier überhaupt nichts in wahrhafter Weise Gewusstes (maʿlūm ʿilman ḥaqīqīyan) geben kann, sondern wenn etwas gibt, so wird es gemeint (maṯnūn), und es gibt hier keinen Beweis (burhān) und überhaupt keine Definition.
Maimonides über die philosophischen Möglichkeiten der Theologie
[1] Ich stellte fest, dass die Methode aller Mutakallimūn der Art nach eine einzige Methode ist, [...] weil das Prinzip von allen die Nichtbeachtung der Existenz, so wie sie ist, darstellt, da diese eine Gewohnheit sei, zu der im Verstand etwas Verschiedenes möglich sei. [...] Wenn festgestellt wurde, dass die Welt neu entstanden (muḥdaṯ) sei, wurde festgestellt, dass sie einen Hersteller (ṣāniʿ) habe, der sie neu gemacht habe. [...] Nun ist dies kein gültiger Beweis (burhān qatʿī), außer für jemanden, der nicht den Unterschied zwischen dem Beweis, der Dialektik und einem Fehlschluss kennt. [...] Bei all diesen Argumentationen (adilla) gibt es Zweifel, und in ihnen werden Prämissen verwendet, die nicht bewiesen sind.
[2] Meiner Meinung nach ist das Ziel der Fähigkeit eines argumentativ vorgehenden Gesetzesgelehrten, dass er die Argumentationen (adilla) der Philosophen für die Ewigkeit [der Welt] entkräftet; [...] schließlich weiß jeder scharfsinnige, argumentativ vorgehende Theoretiker, der sich selbst nicht betrügt, dass zu dieser Frage – ich meine bezüglich der Ewigkeit der Welt oder ihres Neugemachtseins – ein gültiger Beweis nicht erbracht werden kann und dass der Verstand vor ihr stehenbleibt.
Maimonides‘ grundsätzliches Gegenargument gegen die aristotelische Position von der Ewigkeit der Welt
[1] Und in keinerlei Hinsicht gibt es einen Schluss aus der Natur einer Sache nach ihrem Entstehen und ihrem Beendigt-Sein und ihrem gefestigten Wirklichwerden in der Vollendung ihres Zustands auf den Zustand dieser Sache im Zustand der Bewegung zum Entstehen hin.
[2] Und Aristoteles unternimmt es, uns zu widersprechen und gegen uns einen Nachweis zu führen aus der Natur der gefestigten, vollkommen und wirklichen Existenz im Akt, von der wir ihm zugestehen, dass sie nach der ihrer Verfestigung und Vollendung so ist, ohne dass sie in irgendeiner Hinsicht dem ähnlich wäre, was auf sie im Zustand des Entstehens zutrifft.
Maimonides über die Notwendigkeit und Durchführung eines philosophischen Gottesbeweises
[1] Der richtige Ansatz ist nach meiner Ansicht – und dies ist die Methode des apodeiktischen Beweises, über den es keine Unsicherheit gibt –, dass die Existenz Gottes, seine Einheit und seine Freiheit von Körperlichkeit mit den Methoden der Philosophen nachgewiesen wird, [...] ohne die Entscheidung der Frage zu betrachten, ob die Welt ewig oder neu gemacht ist. [...]
[2] Ich sage nun: Die Welt ist entweder ewig oder neu entstanden.
Wenn sie neu entstanden ist, so hat sie ohne Zweifel einen Schöpfer (muḥdiṯ); und dies ist das erste Gedachte, dass das Neue sich nicht selbst neu entstehen lässt, sondern dass sein Neu-Macher verschieden ist von ihm. Und der Neu-Macher der Welt ist Gott.
Und wenn die Welt ewig ist, dann folgt notwendig aus der einen oder anderen Argumentation, dass es dann ein Existierendes gibt, das von allen Körpern der Welt verschieden ist: Es ist kein Körper und keine Kraft in einem Körper, es ist eines, immerwährend und ewig, es hat keine Ursache und eine Veränderung an ihm ist unmöglich. Und dies ist Gott.
Der arabische Literat al-Ğāḥiz (776-869) erklärt die Araber, und nicht die Byzantiner, zu den einzigen legitimen Erben der antiken Wissenschaft
Wenn doch das einfache Volk wüsste, dass die Christen und Byzantiner keine Weisheit und keine Erklärung und keinerlei herausragende Einsicht haben [...], wegen ihrer Abkehr von den Begriffen der Gebildeten und der Erleuchtung durch die Überzeugungen der Philosophen und Weisen! Denn das Buch der Logik und Über Werden und Vergehen und die Meteorologie und die übrigen sind von Aristoteles, und er ist weder ein Byzantiner noch ein Christ. Und das Buch Almagest ist von Ptolemaios, und er ist weder ein Byzantiner noch ein Christ. Und das Buch Euklids ist von Euklid, und er ist weder ein Byzantiner noch ein Christ. Und das Buch der Medizin ist von Galen, und er ist weder ein Byzantiner noch ein Christ. Und ebenso steht es mit den Büchern von Demokrit, Hippokrates und Platon, und von vielen anderen. Und diese Leute sind gewiss aus ihrem Volk verschwunden, und es blieben nur Spuren ihrer Gedanken.
Boethius von Dakien (fl. um 1270) bemüht sich, die Unentscheidbarkeit der Frage nach der Ewigkeit der Welt als philosophisches Projekt nachzuweisen
[1] Nun sagt der Naturphilosoph nur aufgrund der Betrachtung der Kräfte der natürlichen Ursachen, die Welt und die erste Bewegung seien aus ihnen heraus nicht neu. Der christliche Glaube sagt aber aufgrund der Betrachtung einer höheren Ursache als die Natur, die Welt könne aus ihr heraus neu sein. Daher widersprechen sie sich in nichts.
[2] Und aus dem Gesagten lässt sich ein Syllogismus aufstellen:
[3] (a) Es gibt keine Frage, deren schlüssige Beantwortung durch die Vernunft gezeigt werden kann, die der Philosoph nicht erörtern und entscheiden darf, soweit das durch die Vernunft möglich ist. […]
(b) Kein Philosoph aber kann durch die Vernunft zeigen, dass die erste Bewegung und die Welt neu sind, weil es […] weder der Naturphilosoph noch der Mathematiker noch der Theologe kann.
(c1) Also kann durch keine menschliche Vernunft gezeigt werden, dass die erste Bewegung und die Welt neu sind.
(c2) Es kann aber auch nicht gezeigt werden, dass sie ewig sind. Denn wer das bewiese, müsste die Form des göttlichen Willens beweisen – aber wer sollte ihn erforschen?