Ibn Sīnā (Avicenna; 980-1037) erklärt den Unterschied von Existenz und Essenz
[1] ,Existent‘ (mawğūd), ,positiv bestehend‘ und ,wirklich seiend‘ sind synonyme Begriffe, die eine Bedeutung haben – und unzweifelhaft ist ihre Bedeutung in der Seele desjenigen präsent, der dieses Buch liest. ,Ding‘ (šayyʾ) und das, was gleichbedeutend ist, hat gewiss in allen Sprachen eine andere Bedeutung; denn jedes Ding hat eine Wesenheit (ḥaqīqa), durch die es das ist, was es ist (so hat das Dreieck die Wesenheit, ein Dreieck zu sein, und „weiß“ die Wesenheit, weiß zu sein), und diese nennen wir manchmal die „spezifische Existenz“, ohne dass dadurch die Bedeutung „positiv bestehende Existenz“ bezeichnet würde. [...] Es ist klar, dass jedes ,Ding‘ eine spezifische Wesenheit besitzt, nämlich seine Washeit (māhīya). Es ist zugleich bekannt, dass die für jedes ,Ding‘ spezifische Wesenheit verschieden ist von der Existenz, die synonym ist mit positivem Bestehen.
[2] Der Grund dafür ist folgender: Wenn Du sagst, "die Wesenheit von diesem oder jenem existiert entweder in den Einzeldingen oder in den Seelen oder absolut genommen, indem letzteres die ersten beiden umschließt", dann kommt dem eine bestimmte verständliche Bedeutung zu. Wenn Du aber sagen würdest "die Wesenheit von diesem oder jenem ist die Wesenheit von diesem oder jenem", oder: "Die Wesenheit von diesem oder jenem ist eine Wesenheit", so ist dies eine Tautologie, die keine neue Kenntnis verleiht.
Ibn Sīnā unterscheidet zwischen möglichem und notwendigem Sein
[1] Es ist für uns gewiss ebenfalls zu schwer, den Inhalt von ,notwendig‘, ,möglich‘ und ,unmöglich‘ durch eine die Wesenheit angebende Definition (taʿrīf muḥaqqiq) zu bestimmen, sondern das geht nur mittels eines Hinweises. Alles, was über die Definition von ihnen in dem gesagt wurde, was dich von den antiken Philosophen erreichte, endet quasi notwendigerweise in einem Zirkel. [...] Wenn sie ,möglich‘ definieren wollten, zogen sie entweder ,notwendig‘ oder ,unmöglich‘ zu seiner Definition heran [...], und wenn sie ,notwendig‘ definieren wollten, zogen sie zu seiner Definition entweder ,möglich‘ oder ,unmöglich‘ heran. [...]
[2] Aber das erste dieser drei, insofern davon zuerst ein Begriff gebildet wird, ist ,notwendig‘ (wāǧib). Das liegt daran, dass ,notwendig‘ die Festigkeit der Existenz bezeichnet, und die Existenz ist bekannter als die Nicht-Existenz, weil die Existenz in sich selbst erkannt wird, während die Nicht-Existenz irgendwie durch die Existenz erkannt wird.
Avicenna über den Gegenstand der Metaphysik und ihre Ziele
[1] Das Existierende qua existierendes (al-mawǧūd bi mā huwa mawǧūd) ist etwas all diesem [verschiedene Formen von Sein, die Gegenstände verschiedener Wissenschaften sind] Gemeinsames, und es muss zum Gegenstand dieser Fertigkeit gemacht werden [...], weil es ohne eine Untersuchung seiner Wesenheit und ohne einen Nachweis seiner selbst auskommt, so dass eine andere Wissenschaft die Aufklärung seines Zustands übernehmen müsste. [...] Diese Wissenschaft untersucht also die Zustände des Existierenden und die Umstände, die ihm zukommen, wie die Teile und die Arten, bis es zu einer Festlegung gelangt, mit der [zum Beispiel] der Gegenstand der Naturwissenschaft neu entsteht, so dass sie ihn dieser übergibt. [...]
[2] Und dies ist die Wissenschaft (ʿilm), das in dieser Fertigkeit gesucht wird, und es ist die erste Philosophie, weil es das Wissen der ersten Umstände in der Existenz ist – dies sind die erste Ursache und die Umstände in dem Allgemeinen, und die Existenz (wuǧūd) und die Einheit (waḥda) –, und dies ist auch die Weisheit (ḥikma), die das edelste Wissen über das edelste Objekt ist: das edelste Wissen in Bezug auf die Klarheit; über das edelste Objekt in Bezug auf Gott und die Ursachen nach ihm. Es ist also auch die Kenntnis der letzten Ursachen des Universums und auch die Kenntnis Gottes. Und deswegen kommt ihm die Definition ,göttliches Wissen‘ (ʿilm al-īlāhī) zu, der darin besteht, dass es von den Tatsachen, die von der Materie getrennt sind, in Bezug auf die Definition und die Existenz handelt.
Avicenna über die Notwendigkeit möglicher Existenz
Was das Mögliche betrifft, so ist hieraus seine Besonderheit klar geworden, und zwar dass es unbedingt eines anderen bedarf, dass es zu einem im Akt existierenden macht. Alles, was im Hinblick auf die Existenz möglich (mumkin al-wuğūd) ist, das ist hinsichtlich seines Wesens ewig ein möglich Existierendes. Aber manchmal stößt es ihm zu, dass seine Existenz durch etwas anderes notwendig wird. Dies stößt ihm nun entweder ewig zu, oder die Notwendigkeit seiner Existenz stammt von einem anderen auf nicht ewige Weise, sondern zu einer Zeit, aber nicht zu einer anderen Zeit.
Avicenna über die Struktur der ersten Ursache als Intellekt
(1) Und es [das erste Prinzip] liebt sein Wesen, das das Prinzip (mabdaʾ) jeder Ordnung ist und gut ist, insofern es so ist. Dabei wird die Ordnung des Guten (niżām al-ḫair) von ihm akzidentell mitgeliebt. Aber das erste Prinzip wird hierzu nicht von der Liebe bewegt, ja es erfährt von ihr überhaupt keine Wirkung, und es ersehnt und erstrebt nichts. Das ist sein Wille (īrāda), der frei ist vom Mangel, den die Liebe bewirkt, und von der Störung durch das Streben zu einem Ziel hin [...].
(2) Zu der Menge der Verstandesgegenstände (al-maʿqūlāt) gehört derjenige Verstandesgegenstand, dessen Prinzip das Erste unmittelbar ist. Aber seine Existenz fließt (yafīḍu) primär aus ihm. Und der Verstandesgegenstand, dessen Prinzip das Erste mittelbar ist, dies fließt sekundär aus ihm [...]. Einiges von diesem geht jedoch dem anderen voraus in der Rangfolge des Verursachenden und des Verursachten.
Ibn Sīnā (Avicenna) erklärt am Beispiel vom fliegenden Menschen, dass man die Seele ganz losgelöst von ihrer Funktion, den Körper zu beleben, denken kann
Jeder Einzelne von uns soll es sich so vorstellen, als wäre er plötzlich geschaffen und vollendet geschaffen, aber sein Blick abgeschirmt vom Betrachten des Äußeren; und als wäre er so geschaffen, dass er in der Luft fiele oder im Leeren, ohne dass ihm das Vorhandensein der Luft einen Widerstand entgegensetzte, den er wahrnehmen könne, und als bestünde eine Trennung in Bezug auf seine Glieder, so dass sie sich nicht berührten und keinen Kontakt zueinander hätten. Dann soll er bedenken, ob er die Existenz seines Wesens bejaht, so dass er an der Bejahung davon nicht zweifelt, dass sein Wesen existiert, und ob er zugleich damit die Begrenzung seiner Glieder nicht bejaht.
Ibn Sīnā erklärt den Unterschied von Existenz und Essenz
Der Grund dafür ist folgender: Wenn Du sagst, die Wesenheit von diesem oder jenem existiert entweder in den Einzeldingen oder in den Seelen oder absolut genommen, indem letzteres die ersten beiden umschließt, dann kommt dem eine bestimmte verständliche Bedeutung zu. Wenn Du aber sagen würdest: Die Wesenheit von diesem oder jenem ist die Wesenheit von diesem oder jenem, oder: Die Wesenheit von diesem oder jenem ist eine Wesenheit, so ist dies eine Tautologie, die keine neue Kenntnis verleiht.
Ibn Sīnā/Avicenna (908-1037) betont die Bedeutung der Seele für die Naturwissenschaft noch stärker als Aristoteles
[1] Und weil die Pflanzen und die Tiere als Substanzen in ihrem Wesen durch Form, nämlich die Seele, und Materie, nämlich den Körper und seine Glieder, konstituiert werden, und weil das Erste, worin das Wissen über etwas besteht, das ist, was von Seiten seiner Form kommt, hielten wir es für gut, zuerst über die Seele zu sprechen.
[2] Und dass wir das Wissen über die Seele nicht Stück für Stück darlegen, so dass wir zuerst über die Pflanzenseele und die Pflanzen, so dann über die Tierseele und die Tiere, und dann über die menschliche Seele und den Menschen sprechen, das liegt nur an zwei Gründen:
- Einer davon ist, dass dieses stückweise Vorgehen, das eines nach dem anderen in den Blick nimmt, zu dem gehört, was das Erlangen von Wissen über die Seele schwierig macht; und
- der zweite, dass […] dadurch unvermeidlich die Seelenvermögen abgetrennt werden, deren Art und deren Gattungen je für sich behandelt werden.
Ibn Sīnā (Avicenna) beginnt seine Ausführungen mit einem Beweis der Existenz der Seele
[1] Wir sagen: Das Erste, worüber wir sprechen müssen, ist nun der Beweis für das Sein derjenigen Sache, die wir ,Seele‘ nennen; dann sprechen wir über das, was darauf folgt. Nun sagen wir: Wir sehen gewiss Körper, die sich ernähren, schlafen, Ähnliches gebären, und dieses nicht aufgrund ebendieser Körper. Also bleibt übrig, dass es in ihren Wesenheiten unkörperliche Prinzipien dafür gibt. Und die Sache, aus der diese Akte hervorgehen, und überhaupt alles, was ein Prinzip ist für das Hervorbingen von Tätigkeiten, die nicht auf eine übliche Weise, durch den Willen geschehen, nennen wir Seele.
[2] Und diese Bezeichnung ist ein Name für diese Sache, nicht, insofern sie eine Substanz ist, sondern von Seiten dessen […], dass sie Prinzip für derartige Aktivitäten ist.
Ibn Sīnā betont die Rolle des Intellekts (<i>al-ʿaql</i>), differenziert das Phänomen weiter auf und führt innere Sinne wie das Einschätzungsvermögen ein
[1] Bedenke nun und betrachte die Lage dieser Vermögen, wie einige über andere herrschen und wie einige anderen dienen.
[2] Dann musst Du den erworbenen Intellekt als Herrscher ansetzen, und alle dienen ihm, und er ist der äußerste Gipfel. Sodann dient dem Intellekt im Akt der habituelle Intellekt, und der materielle Intellekt dient, insofern es in ihm Aufnahmebereitschaft gibt, dem habituellen Intellekt. Sodann dient der praktische Intellekt all diesen, weil die körperliche Zusammensetzung […] wegen der Vollendung, Reinigung und Läuterung des theoretischen Intellekts erfolgt. Und der praktische Intellekt leitet diese Zusammensetzung.
[3] Sodann dient dem praktischen Intellekt das Einschätzungsvermögen, und diesem dienen zwei Vermögen, das ihm vorhergehende und das ihm nachfolgende Vermögen. Dabei ist das Vermögen, das ihm nachfolgt, dasjenige, das aufbewahrt, was das Einschätzungsvermögen erbracht hat, also das Gedächtnis. Und das Vermögen, das ihm vorhergeht, sind alle dem Lebewesen zukommenden Vermögen.
Ibn Sīnā erklärt, in neuplatonischer Tradition, die Rolle der Seele als eine abgetrennte Vollendung der Körpers
[1] Nun ist klar, dass die Seele nicht ein Körper ist, sondern ein Teil des Lebewesens und der Pflanze, der eine Form oder wie eine Form oder wie eine Vollendung ist […].
[2] Ferner ist jede Form eine Vollendung, und nicht jede Vollendung eine Form. Der König ist ja die Vollendung der Stadt, und der Kapitän die Vollendung des Schiffs, und doch sind sie keine Formen der Stadt und des Schiffs. Und was von den Vollendungen wesenhaft abgetrennt ist, ist nicht wirklich eine Form für die Materie und in der Materie. […] Und man ist sich einig, dass diese Sache im Verhältnis zur Materie Form ist, und im Verhältnis zum Kompositum [aus Körper und Form] Ziel und Vollendung sowie im Verhältnis zur Bewegung Wirkursache und Bewegungskraft.
[3] Und wenn das so ist, dann benötigt die Form eine Beziehung zu einer von der Substanz, die ihretwegen wirklich ist, entfernten Sache und zu einer Sache, kraft derer die an sich in Möglichkeit befindliche Sache wirklich ist. […] Also ist von daher klar, dass wir, wenn wir zur Erklärung der Seele sagen, dass sie eine Vollendung ist, auf ihren Gehalt hinweisen, der zugleich alle Arten von Seele umfasst.
Ibn Sīnā reflektiert die von Aristoteles genannten Bedingungen für die Feststellung von Teilen bzw. unterschiedlichen Vermögen der Seele
(1) Und unser Ziel ist jetzt, die Vermögen bekanntzumachen, von denen die Akte ausgehen, sowie, ob es für jede Art von Akt ein spezifisches Vermögen geben muss oder ob das nicht so sein muss. […] Wir sagen also erstens: Ein Vermögen, insofern es wesentlich ein Vermögen und primär ist, ist ein Vermögen zu einer gewissen Sache, und es ist unmöglich, dass es Prinzip einer anderen, davon verschiedenen Sache ist. Denn insofern etwas ein Vermögen zu etwas ist, ist es Prinzip davon. […].
(2) Nun sind die Vermögen, insofern sie Vermögen sind, dem ersten Zweck nach Prinzipien für bestimmte Akte. Aber es ist möglich, dass ein einzelnes Vermögen dem zweiten Zweck nach Prinzip für viele Akte ist, insofern diese wie Zweige sind. […] Zum Beispiel ist der Gesichtssinn primär nur ein Vermögen zur Auffassung einer Qualität, in der sich der Körper befindet […], und dies ist die Farbe. Sodann ist die Farbe weiß und schwarz.
Ibn Sīnā unterscheidet, Aristoteles folgend, drei grundsätzliche Vermögen der vegetativen Seele
(1) Und die Pflanzenseele hat drei Vermögen. Und das Nährvermögen ist das Vermögen, einen anderen Körper als den Körper, in dem es ist, in eine Ähnlichkeit zu dem Körper, in dem es ist, zu verwandeln, und diesem das anzuhaften, was von jenem ist;
(2) und das Wachstumsvermögen, das das Vermögen ist, zu dem Körper, in dem es ist, durch einen ähnlichen Körper etwas Passendes zu seiner Ausdehnung hinzuzufügen, in Bezug auf die Länge und die Tiefe und die Breite, so dass er die Vollendung des Wachstums erreicht.
(3) Und das generative Vermögen empfängt von dem Körper, in dem es ist, einen Teil, der ihm dem Vermögen nach ähnlich ist. Dann macht es mit ihm durch Aufnahme anderer Körper, die ihm ähnlich sind, durch Herstellung von etwas, das es hervorbringt, etwas, das ihm im Akt ähnlich ist.
Ibn Sīnā über die unterschiedliche Wirkung des vegetativen Fortpflanzungsvermögens in verschiedenen Wesen
[1] Und das pflanzliche Vermögen, das in den Tieren ist, also der Unterschied, den sie in ihrem Sein vom Allgemeinen haben, ist gerade das Nähr- und Wachstumsvermögen, und es ist vermischt mit der Gestalt und den Elementen zu einer Mischung, die für das Lebewesen passt. Denn ihre Mischung spielt nicht die Rolle des Vermögens, das den Pflanzen und Tieren gemeinsam ist, insofern es gemeinsam ist. […] Es gehört nämlich nicht zur Natur der Elemente und gegensätzlichen Körper, dass sie miteinander verbunden sind, sondern zu ihrer Natur gehört eine Neigung nach verschiedenen Seiten hin.
[2] Und verbunden hat sie nur die spezifische Seele, zum Beispiel in einer Palme eine Palmenseele und bei einer Traube eine Traubenseele und überhaupt die Seele, welche die Form für diese Materie ist. Und wenn es sich um eine Palmenseele handelt, kommt es ihr zusätzlich dazu, eine Palmenseele zu sein, zu, dass sie eine Wachstumsseele ist, und in einer Traube, eine Traubenseele zu sein. Und die Palme braucht nicht eine Pflanzenseele und eine andere Seele, die in dieser Palmenseele wäre. […] Und insofern ist die Pflanzenseele, die in den Tieren ist, also die nach Schöpfung des Tieres, […] in Wirklichkeit keine Pflanzenseele, abgesehen davon, dass man sie eine Pflanzenseele in der Weise nennt, die wir erwähnt haben.
Ibn Sīnā betrachtet die Sinneswahrnehmung als ein spezifisches Feld der Abstraktion
(1) Jetzt wollen wir über die Vermögen der Sinneswahrnehmung und des Auffassens sprechen, und wir wollen über das sprechen, was zur allgemeinen Rede darüber gehört. Wir sagen also: Es scheint, dass jedes Auffassen nichts anderes als ein Ergreifen der aufgefassten Form auf eine von mehreren Weisen ist. Wenn sich nun das Auffassen auf eine materielle Sache richtet, so ist es das Ergreifen seiner von der Materie in einer bestimmten Weise losgelösten (muğarradatin = abstractam) Form. Aber es gibt verschiedene Arten der Loslösung (al-tağrīdi = abstractionis), und ihre Stufen sind nicht von gleicher Art.
(2) Der materiellen Form stoßen nun aufgrund der Materie akzidentell Zustände und Lagen zu, die nicht zu ihrem Wesen gehören. […] Zum Beispiel ist die menschliche Form bzw. die menschliche Washeit eine Natur, die nicht notwendigerweise die Individuen der ganzen Art in gleicher Weise umfasst. Sie ist ja der Zahl nach eine Sache, und es stößt ihr akzidentell zu, dass sie in diesem und jenem Individuum besteht, so dass sie sich vervielfältigt. Und das trifft auf sie nicht von Seiten ihrer Menschennatur zu. […] Folglich ist eines der Akzidenzien der Menschheit von Seiten der Materie genau diese Art der Vervielfältigung durch Teilung.
Ibn Sīnā erörtert, wie die Abgabe und Aufnahme einer abstrahierten Form bei der Sinneswahrnehmung genügt
(1) Und wir sagen: In der Seele wird eine Form des Gesehenen aufgenommen, die der Form in diesem ähnelt, aber nicht diese Form selbst ist. Und auch das, was aufgrund von Annäherung wahrgenommen wird, wie das Gerochene und Berührte, erreicht das Wahrnehmende durch diese Form davon. Aber es entsteht in ihm nur etwas dieser Form Ähnliches.
(2) Von denjenigen der Sachen jedoch, die ein Erleiden hervorrufen, gibt es einen Weg durch Berührung. Und unter ihnen muss etwas, wenn die Berührung entsteht, geschädigt werden, damit eine Spur davon zurückgelassen wird.
(3) Und dies ist an diesem Ort derjenige Strahl, der zu dessen Verbindung mit der Form des Gesehenen erforderlich ist. So kann dasjenige, was die Form aufweist, ein Abbild seiner Form, das dem in der Ferne Auswerfenden als schwaches Abbild ähnlich ist, zu etwas von ihm Verschiedenem hin auswerfen, wenn das Licht stark wird.
Ibn Sīnā stellt einen Zusammenhang zwischen dem Tastsinn und einer minimalen Bewegungsfähigkeit bei Schalentieren fest
Und was die Bewegung betrifft, so kann jemand sagen: Nahe ist der Tastsinn den Tieren. Und insoweit er die primäre Art der Sinneswahrnehmung ist, insoweit dürfte scheinen, dass er unter den Bewegungskräften als erste Art vorhanden ist. Nun ist es bekannt, dass es von den Tieren welche gibt, die den Tastsinn besitzen und nicht die Fähigkeit zur Bewegung, so wie die Arten der Muscheln. Aber wir sagen, dass die willentliche Bewegung auf zwei Weisen erfolgt, als von Ort zu Ort transportierende Bewegung und als Bewegung des Zusammenziehens und Ausdehnens der Glieder des Tieres. Und wenn es in ihm überhaupt keinen Transport von seinem Ort gibt, so ist es unmöglich, dass das Tier den Tastsinn hat und die Bewegungskraft in ihm gar nicht vorhanden ist. Denn wie soll man wissen, dass es den Tastsinn hat, außer dadurch, dass an ihm eine Art von Abwendung vom Ertasteten und Streben zum Ertasteten gesehen wird?
Ibn Sīnā ergänzt den Gemeinsinn und die Formen des Vorstellens weiter und fasst sie zur Gruppe der fünf inneren Sinne zusammen
[1] Nun wissen wir aber in unserer Natur, dass wir Sinnesobjekte nicht gemäß der Form, die wir außen sehen, untereinander kombinieren und voneinander unterscheiden. […] Es ist also nötig, dass es in uns eine Kraft gibt, durch die wir dies tun. Sie wird, wenn der Intellekt sie verwendet, Denkkraft genannt, und, wenn ein tierisches Vermögen sie verwendet, Vorstellungskraft.
[2] Ferner urteilen wir bisweilen über Sinnesobjekte durch Intentionen, deren Naturen zum Teil gar nicht sinnlich wahrnehmbar sind, […] so wie Feindschaft, Schlechtigkeit und Abneigung, welche das Schaf in der Form des Wolfs wahrnimmt, und überhaupt die Intention, die es vor ihm fliehen lässt, sowie die Eintracht, die es bei seiner Gefährtin wahrnimmt. […] Es handelt sich um Dinge, welche die tierische Seele wahrnimmt, ohne dass die Sinneswahrnehmung auf irgendetwas davon hinweist. Also ist das Vermögen, durch welches dies aufgefasst wird, eine andere Kraft und wird Einschätzungskraft genannt (al-wahm = aestimatio).
Ibn Sīnā beschreibt die Struktur und den Status des menschlichen Intellekts in neuplatonischer Weise
(1) Wir sagen nun: Die Seele denkt, indem sie in sich selbst die von der Materie losgelöste Form des Gedachten auffasst. Und das Sein der losgelösten Form besteht entweder dadurch, dass der Intellekt sie loslöst; oder weil diese Form in sich selbst losgelöst von der Materie ist. […] Und die Seele erfasst formend ihr Wesen, indem sie es zum Intellekt, zum Denkenden und zum Gedachten macht. Und im Hinblick darauf, dass sie diese Formen formt, so macht sie sie nicht so. Sie ist ja in ihrer Substanz ewig im Körper ein Intellekt der Möglichkeit nach, auch wenn sie in bestimmten Gegenständen zum Akt übergeht. […]
(2) Und das Auffassen davon ist das denkende Wissen, indem nur eine Vollendung zustande kommt, wenn [die Objekte] zusammengesetzt und geordnet werden. Und die zweite [Stufe] ist das einfache Wissen, dem es nicht zukommt, dass es in der Seele eine Form dafür gibt. Vielmehr ist es eines, von dem die Formen in das für die Formen Empfängliche ausgehen. Und dies ist das schöpferische Wissen für das, was wir denkendes Wissen nennen, und dessen Prinzip. Und dieses liegt in dem Intellektvermögen, das abgelöst von der Seele und den schöpferischen Intellekten ähnlich ist. […]
(3) Und wisse, dass es in dem von diesem beiden reinen Intellekt keinerlei Vielheit gibt und keine Ordnung von Form zu Form. Sondern er ist das Prinzip für jede Form, die von ihm zur Seele hin ausströmt. Und Du musst glauben, dass so das Sein des rein Abgetrennten ist […]. Und unser Intellekt ist der schöpferische Intellekt für die ihm zukommenden Formen, nicht der der die Formen produziert.
Ibn Sīnā äußert sich im aristotelischen Sinne zum menschlichen Handeln und begründet dies mit der menschlichen Selbstbeobachtung
Wenn die Lebewesen nicht etwas begehren, das sie in ihrem Begehren oder in ihrer Vorstellung auffassen oder nicht auffassen, gelangen sie nicht dazu, dies durch eine Bewegung zu erstreben. […] Sieh, die Leute kommen im Auffassen von etwas, das sie sinnlich wahrnehmen und sich vorstellen, darin überein, dass sie es sinnlich wahrnehmen und sich vorstellen. Aber sie unterscheiden sich darin, dass sie das begehren, was sie sinnlich wahrnehmen. Und die Situation des einzelnen Menschen hierin ist gewiss unterschiedlich. So stellt man sich Nahrung vor, und begehrt sie in einem Moment des Hungers, und begehrt sie nicht in einem Moment der Sättigung. Und auch die Schönheit der Sitten begehrt jemand nicht, wenn er sich schändliche Freuden vorstellt, und der andere begehrt sie. Und diese beiden Zustände [des Begehrens und Nicht-Begehrens] hat nicht der Mensch allein, sondern alle Lebewesen.
Ibn Sῖnā erklärt das Verhältnis von Seele und Körper
[1] Im Hinblick darauf, dass die Seele beim Tode des Körpers nicht stirbt, so ist jede Sache, die beim Zugrundegehen einer anderen Sache zugrunde geht, mit ihr auf eine Art des Zusammenhangs verbunden. […] Und wenn die Verbindung der Seele mit dem Körper erforderlich für das Sein und ein wesentlicher Aspekt dafür ist, kein akzidenteller, so steht jedes von beidem [Körper und Seele] in einer wesentlichen Relation zum anderen. […] Und wenn dies ein akzidenteller, nicht wesentlicher Aspekt ist, dann wird, wenn eines der beiden zugrunde geht, das andere Akzidens von seiten der Relation vernichtet, aber das Wesen geht bei dessen Zugrundgehen von seiten dieser Verbindung nicht zugrunde,
[2] Wenn nun die Materie des Körpers neu entsteht, so dass es sich fügt, dass das Werkzeug für die Seele und ihr Königreich da ist, bringen die abgetrennten Ursachen die Einzelseele hervor, und sie wird so von ihnen hervorgebracht. Nun ist ihr Hervorvorbringen ohne spezifizierende Ursache, als Hervorbringen einer ohne die andere, absurd, und die Realität einer Vielheit der Zahl nach unmöglich. […].
[3] Und auch, wenn es möglich wäre, dass eine Einzelseele entsteht und ihr Werkzeug nicht entsteht, durch das sie sich vollendet und tätig ist, so wäre sie nutzlos in ihrem Sein. Aber es gibt nichts Nutzloses in der Natur. Und wenn das unmöglich ist, so gibt es keine Macht dazu.
[4] Und wenn das Neuentstehen einer Sache beim Neuentstehen einer anderen Sache erfolgt, ist es nicht notwendig, dass sie bei deren Zerstörung zerstört wird. Das ist nur der Fall, wenn das Wesen der Sache durch und in dieser Sache liegt. […] Und was das Sein der Seele konstituiert, ist eine unkörperliche Sache und keine Kraft in einem Körper. Vielmehr ist es ein beständiges Wesen, das frei ist von Materie und von Ausdehnung.
Ibn Sῖnā begründet die Unzerstörbarkeit der Seele als solcher
[1] Und ich sage auch, dass keine andere Ursache die Seele gänzlich vernichten kann. […] Wir sagen, dass bei zusammengesetzten Sachen und einfachen Sachen, die nicht dauerhaft in der Zusammensetzung bestehen, ein Akt der Fortdauer zusammen mit einer Möglichkeit des Zugrundegehens bestehen kann. Und bei einfachen, in ihrem Wesen abgetrennten Sachen können diese Aspekte nicht zusammen bestehen. […]
[2] Und wenn die Seele schlechthin einfach ist, so dass sie nicht in Materie und Form geteilt werden kann, und wenn sie [mit einem Körper bzw. anderen Seelenvermögen] zusammengesetzt ist, wollen wir das Zusammengesetzte beiseite lassen und die Substanz betrachten, die ihre Materie ist, und wir wollen die Rede lenken auf die ihre Materie selbst und über diese sprechen. Wir sagen also: Diese Materie ist entweder dauerhaft so teilbar […] – und das ist absurd; oder die Sache, welche die Substanz und Wurzel ist, ist unzerstörbar. […] Und das ist, was wir Seele nennen. […] Und dann ist klar, dass es in der Substanz der Seele nicht die Möglichkeit gibt, dass sie zugrunde geht.