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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

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Cicero: Für Cluentius (Pro Cluentio) 159

Cicero über die Bedeutung des Gewissens für den Richter
Es zeichnet, ihr Richter, einen großen und weisen Menschen aus, wenn er sein Stimmtäfelchen zum Urteilen aufnimmt, nicht zu meinen, dass er allein ist, und auch nicht, dass ihm erlaubt ist, was immer er nur begehrt, sondern dass er zur Überlegung das Gesetz, die Frömmigkeit, die Gerechtigkeit und die Redlichkeit heranzieht, während er die Lust, den Hass, den Neid, die Furcht und alle Begierden abwehrt und das Gewissen seines Geistes am höchsten schätzt, das wir von den unsterblichen Göttern empfangen haben und das von uns nicht losgerissen werden kann. Wenn dies für uns der Zeuge für die besten Überlegungen und Taten im gesamten Leben ist, dann werden wir ohne jede Furcht und mit höchster Ehrbarkeit leben.

Cicero: Für Milo (Pro Milone) 61

Cicero über innere und äußere Dimensionen des Gewissensurteils
Aber wenn ihr noch nicht hinreichend erkennt, obwohl die Sache selbst mit so vielen so klaren Argumenten und Zeichen zutage liegt, dass Milo mit reinem und unversehrtem Geist, durch kein Verbrechen befleckt, durch keinerlei Furcht erschreckt, durch kein Gewissen betäubt nach Rom zurückgekehrt ist, dann erinnert euch – bei den unsterblichen Göttern – wie schnell seine Rückkehr erfolgt, wie sein Einzug ins Forum war, in Anbetracht der brennenden Kurie, was für eine Geistesgröße er zeigte, was für einen Gesichtsausdruck, was für eine Beredsamkeit. [...] Groß ist die Kraft des Gewissens, ihr Richter, und zwar groß in beide Richtungen, so dass die, die nichts verbrochen haben, auch nichts fürchten und die, die sich verfehlt haben, meinen, dass ihnen die Strafe beständig vor Augen steht.

Cicero: Die Gesetze (Cicero) (De legibus) I 40

Cicero über die bestrafende Kraft des schlechten Gewissens
Aber es gibt keine Sühne für Verbrechen gegen die Menschen und Respektlosigkeiten . Daher werden sie bestraft, nicht so sehr durch Gerichtsurteile – die gab es früher nirgends, heute gibt es weithin keine, und wo es sie gibt, sind sie allzu häufig falsch –, sondern die Furien treiben sie vor sich her, nicht mit brennenden Ruten, so wie in den Mythen, sondern durch die Bedrängnis des Gewissens und die Qual der Bosheit.

Seneca: Das glückliche Leben (De vita beata) 20, 4-5

Seneca über die Wirkung des Gewissens im glücklichen Leben
Nichts will ich um einer Meinung willen tun, alles um des Gewissens willen. Ich will annehmen, dass alles unter öffentlicher Betrachung geschieht, was ich in eigenem Bewusstsein tue. [...] Und wenn einmal entweder die Natur meine Lebenskraft zurückfordert oder meine Natur sie entlässt, dann werde ich mit dem Zeugnis scheiden, dass ich das Gewissen geliebt habe, die guten Bemühungen, dass die Freiheit von niemandem durch mich verringert wurde, am allerwenigsten meine eigene‘ – wer sich vornehmen, wer wollen, wer versuchen wird, dies zu tun, der wird den Weg zu den Göttern gehen, ja er wird, selbst wenn er an ihm nicht festhält, ,doch aus einem großen Wagnis fallen.

Philon von Alexandrien: Die zehn Gebote (De decalogo) 87f. (Philonis opera IV p. 288)

Philon von Alexandrien vergleicht die Wirkung des Gewissens mit einem Gerichtshof der Gedanken
Denn die jeder Seele angeborene und mit ihr lebende Prüfung, die nicht gewohnt ist, etwas Unrechtes zuzulassen, die immer eine das schlechte Hassende und die Tugend liebende Natur zeigt, ist Ankläger und Richter zugleich; wenn sie einmal geweckt ist, beschuldigt sie als Ankläger, klagt an und beschämt; als Richter hinwiederum belehrt sie, erteilt Zurechtweisung, mahnt zur Umkehr. Und hat sie überreden können, dann ist sie erfreut und ausgesöhnt; konnte sie das aber nicht, dann kämpft sie unversöhnlich und lässt weder am Tag noch in der Nacht ab, sondern versetzt unheilbare Stiche und Wunden, bis sie das elende und fluchwürdige Leben vernichtet hat.

Paulus von Tarsus (Apostel): Römerbrief (Pauli epistula ad Romanos) 1, 19-22

Paulus von Tarsus über die natürliche Kenntnis Gottes bei jedem Menschen
Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar. Denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn was an ihm unsichtbar ist, wird seit der Schöpfung durch seine Werke als Gedachtes [Luther: „wenn man sie wahrnimmt“; Einheitsübersetzung: „mit Vernunft“] erblickt, seine ewige Kraft und Gottheit, so dass sie unentschuldbar sind, weil sie Gott, obwohl sie ihn erkannten, nicht als Gott lobten. [...] Während sie behaupteten, weise zu sein, wurden sie zu Toren

Paulus von Tarsus (Apostel): Römerbrief (Pauli epistula ad Romanos) 2, 12-16

Der Apostel Paulus über die Gewissensfreiheit der Heiden gegenüber dem Gesetz
Denn die, die ohne Gesetz sündigten, werden auch ohne Gesetz zugrunde gehen, und die, die im Gesetz sündigten, werden durch das Gesetz beurteilt werden. Denn nicht die Hörer des Gesetzes sind gerecht bei Gott, sondern die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden. Denn wenn die Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus die Inhalte des Gesetzes tun, dann sind diese, obwohl sie das Gesetz nicht haben, für sich selbst Gesetz, sie, die zeigen, dass das Werk des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist, wenn ihnen ihr Gewissen Zeugnis gibt und wenn sich ihre Gedanken untereinander anklagen und verteidigen, an dem Tag, wenn Gott das Verborgene der Menschen gemäß meinem Evangelium durch Jesus Christus beurteilt.

Paulus von Tarsus (Apostel): 1. Korintherbrief 10, 23-31

Der Apostel Paulus über die Gewissensfreiheit des Christen
Alles ist erlaubt – aber nicht alles nützt. Alles ist erlaubt – aber nicht alles baut auf. Keiner suche seine eigene Angelegenheit, sondern die des anderen. Alles, was auf dem Fleischmarkt verkauft wird, esst, ohne einen Unterschied zu machen wegen des Gewissens. Denn dem Herrn gehört die Erde und, was sie erfüllt. Wenn einer der Ungläubigen euch einlädt und ihr wollt gehen, dann esst alles, was euch vorgesetzt wird, ohne einen Unterschied zu machen wegen des Gewissens. Aber wenn euch jemand sagt: ,Dies ist Götzenopferfleisch‘, esst es nicht, um dessentwillen, der darauf hinweist, und um des Gewissens willen. Gewissen nenne ich nicht nur das eigene, sondern das des anderen. Denn wozu soll meine Freiheit unter einem anderen Gewissen verurteilt werden? [...] Wenn ihr nun esst, wenn ihr trinkt, wenn ihr irgendetwas tut, tut es zum Ruhm Gottes

Paulus von Tarsus (Apostel): Römerbrief (Pauli epistula ad Romanos) 14, 22f.

Paulus beschreibt den Glauben als Prinzip der Selbstprüfung
Du hast dir gemäß einen Glauben vor Gott. Selig ist, wer sich selbst nicht verurteilt, in dem was er billigt. Wer aber Bedenken trägt, wird, wenn er isst, verurteilt, weil dies nicht aus Glauben geschieht. Alles aber, was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde.

Origenes: Römerbriefkommentar (Origenes) 2, 14-16 (Bd. 1, p. 230-232 Heither)

Der Kirchenvater Origenes deutet Paulus‘ Aussagen im Römerbrief als Theorie der Freiheit des Gewissens (libertas conscientiae)
Und der Apostel sagt, dass diejenigen das Zeugnis eines gesunden Gewissens besitzen, die das in die Herzen eingeschriebene Gesetz einhalten. Daher scheint es notwendig zu erörtern, was dasjenige sei, das der Apostel Gewissen nennt; ob es eine andere Substanz ist als das Herz oder die Seele. Denn von diesem Gewissen wird auch anderswo [in der Bibel] gesagt, dass es tadelt und nicht getadelt wird und den Menschen richtet, selbst aber nicht gerichtet wird. [...] Weil ich also bei ihm eine so große Freiheit sehe, dass es sich immer an den guten Taten freut und über sie jubelt, für die schlechten aber nicht angeklagt wird, sondern die Seele, der es anhängt, tadelt und anklagt, meine ich, dass es der Geist ist, von dem der Apostel sagt, er sei mit der Seele [...], mit ihr verbunden wie ein Erzieher und Leiter, um sie über das Bessere zu ermahnen und über die Schuld zu strafen und anzuklagen.

Origenes: Römerbriefkommentar (Origenes) 2, 14-16 ( Bd. 1, p. 234 Heither)

Origenes über die anklagenden Gedanken
Dann ist zu schauen, wie an dem Tag, an dem Gott das Verborgene der Menschen richten wird, die Gedanken die Seele entweder anklagen oder verteidigen werden [...]. Denn wenn wir entweder Gutes oder Böses denken, dann bleiben in unserem Herz, wie im Wachs, gewisse Abdrücke und Zeichen sowohl der guten als auch der schlechten Gedanken zurück. Jetzt liegen sie im Verborgenen der Brust, aber man sagt, dass sie an jenem Tag enthüllt werden von niemand anderem als dem, der allein das Verborgene der Menschen wissen kann. Auch unser Gewissen wird mit bezeugen, dass die Ursachen dieser Zeichen und Abdrücke Gott nicht verborgen bleiben.

Hieronymus : Kommentar zum Buch Ezechiel (In Hesekielem ) 1, 1, 6-8 [12, 217-223 Glorie]

Hieronymus (in der Nachfolge des Origenes) über die vierte Kraft der Seele
Als viertes setzen sie die Kraft an, die über und außerhalb dieser drei ist, welche die Griechen syneidesis/synderesis nennen. Dieser Funke des Gewissens wird auch in der Brust Kains nicht ausgelöscht, nachdem er aus dem Paradies vertrieben wurde. Durch ihn fühlen wir, dass wir sündigen, weil wir von Begierden oder vom Zorn besiegt und bisweilen durch eine Ähnlichkeit der Vernunft selbst getäuscht wurden. Sie schreibt man insbesondere dem Adler zu, der sich mit den drei anderen Seelenvermögen nicht vermischt, sondern die drei irrenden korrigiert.

Augustinus von Hippo: Zu verschiedenen Fragen (De diversis quaestionibus ) 31, 2 (p. 88, 70-79)

Augustinus nennt die Weltordnung auch das natürliche Gesetz und erklärt, warum nur besonders verrohte Menschen andere Menschen töten dürfen
[1] Aus dieser unsagbaren und erhabenen Verwaltung der Dinge, die durch die göttliche Vorsehung geschieht, ist das Naturgesetz in die rationale Seele gleichsam eingeschrieben, damit in der Führung dieses Lebens und in den irdischen Sitten die Menschen Abbilder solcher Verteilungen bewahren.
[2] Von daher erklärt es sich, dass ein Richter es für seiner Stellung unwürdig und verwerflich hält, einen Verurteilten zu töten. Auf seinen Befehl hin tut dies der Henker, der wegen seiner Begierde in seiner Amtsstellung den Platz in der Ordnung innehat, dass derjenige den durch das Maß der Gesetze Verurteilten tötet, der auch einen Unschuldigen mit der ihm eigenen Grausamkeit töten könnte.

Augustinus von Hippo: Zu verschiedenen Fragen (De diversis quaestionibus ) 53, 2 (p. 88, 87-89, 98)

Augustinus über den Raub der goldenen Gefäße der Ägypter (Exodus 12, 35f.)
[1] Wenn es also richtig ist, dass einige Leute etwas erleiden, von denen es nicht richtig ist, dass andere sie tun, gibt es gewisse mittlere Ämter, denen die entsprechenden Pflichten auferlegt werden. Auf diese Weise befiehlt die Gerechtigkeit selbst nicht nur, dass jeder das erleidet, was zu erleiden für ihn richtig ist, sondern auch durch diejenigen Täter, für die es nicht weniger richtig ist, das zu tun.
[2] Weil daher auch die Ägypter einer Täuschung würdig waren und weil das Volk Israel zu jenem Zeitalter des Menschengeschlechts noch immer auf einer solchen Stufe der Sitten stand, dass es einen Feind nicht täuschte, ohne dessen würdig zu sein, geschah es, dass Gott anordnete – oder vielmehr entsprechend deren Begierde gestattete –, die goldenen und silbernen Gefäße, nach denen sie als Begehrer des irdischen Reichs noch lechzten, von den Ägyptern erbaten, ohne sie zurückgeben zu wollen, und sie erhielten, als ob sie sie zurückgeben würden.

Augustinus von Hippo: Der Gottesstaat (De civitate dei) I 22

Augustinus lehnt das römische Ideal einer Selbsttötung aus Geistesgröße ab
Und alle die, die dies [den Tod] sich selbst zufügten, sind vielleicht für ihre Geistesgröße zu bewundern, aber jedenfalls nicht für die Gesundheit ihrer Weisheit zu loben. Wenn du die Vernunft sorgfältiger zu Rate ziehst, wird man dies freilich nicht einmal zu Recht Geistesgröße nennen können, wenn sich jeder, der entweder irgendwelche Härten oder fremde Sünden nicht ertragen kann, selbst umbringt.

Augustinus von Hippo: Der Gottesstaat (De civitate dei) I 26

Augustinus über die Freiheit des Gewissens gegenüber dem Worte Gottes
a) Aber sie [die heidnischen Kritiker] sagen nun, zur Zeit der Verfolgung haben sich doch einige heilige Frauen, um die Verfolger ihrer Keuschheit zu vermeiden, in einen Fluss geworfen, der sie wegreißen und umbringen sollte und sind auf diese Weise gestorben. Ihre Martyrien werden nun in der katholischen Kirche regelmäßig mit großartiger Verehrung begangen.
b) Über diese [heiligen Frauen] wage ich nicht, ein sicheres Urteil auszusprechen. [...] Denn was ist, wenn sie dies nicht aufgrund einer menschlichen Täuschung taten, sondern auf göttlichen Befehl hin, nicht irrend, sondern gehorchend? [...] Denn auch ein Soldat ist, wenn er im Gehorsam gegenüber einer staatlichen Gewalt, unter welche er legitimerweise gestellt ist, einen Menschen tötet, durch kein Gesetz seines Staates des Mordes schuldig, sondern ist vielmehr, wenn er es nicht getan hätte, schuldig des Verlassens und der Verachtung eines Befehls. Aber wenn er es aus eigenem Antrieb und eigener Urheberschaft getan hätte, dann unterfiele er dem Verbrechen des Vergießens menschlichen Blutes. [...]
Aber wenn das bei dem Befehl eines Feldherrn so ist, um wie viel mehr bei einem Befehl des Schöpfers! Wer also hört, man dürfe sich nicht töten, soll dies doch tun, wenn der befohlen hat, dessen Befehle nicht missachtet werden dürfen. Er soll lediglich darauf achten, dass der göttliche Befehl durch keine Unsicherheit schwankt! Wir begegnen dem Gewissen durch das Ohr, das Urteil über das Verborgene maßen wir uns nicht an. ,Niemand weiß, was im Menschen getant wird, außer der Geist des Menschen, der in ihm wohnt‘ (1 Korinther 2, 11).

Averroes : Die entscheidende Abhandlung 2-3 = 1-5

Averroes über die Notwendigkeit philosophischer Forschung laut dem Koran
[2] Wenn die Tätigkeit der Philosophie nichts weiter ist als die Theorie (naẓar) über das Existierende (al-mawǧūdāt) und seine Betrachtung, insofern es auf den Hersteller verweist [...], und wenn das Gesetz (aš-šarʿ) dazu aufgefordert und angespornt hat, das Existierende zu betrachten, so ist klar, dass das, worauf dieser Name verweist, entweder vom Gesetz vorgeschrieben oder als Auftrag gegeben ist. Dass das Gesetz dazu aufruft, mit dem Intellekt (ʿaql) das Existierende zu betrachten [...], wird klar durch verschiedene Verse aus dem Buch Gottes. [...].
[3] Und es ist klar, dass diese Form von Theorie, zu welcher das Gesetz aufruft und anspornt, die vollendetste Art der Theorie mittels der vollendetsten Art des Schlusses ist, und diese wird ,Beweis‘ (burhān) genannt.

Averroes : Die entscheidende Abhandlung 13f

Averroes erklärt den Hintergrund der allegorischen Auslegung von Korantexten, die deren Vereinbarkeit mit der Philosophie sicherstellt, und die Bedingungen für dieses Vorgehen im Einzelfall
[12] Also wissen wir, die Gemeinschaft der Muslime, in endgültiger Weise, dass die Theorie in Beweisform nicht zu etwas führt, worin das Gesetz widerspricht; das Wahre widerspricht nicht dem Wahren, sondern ist im Einklang mit ihm und bezeugt es.
[13] [...] Und weil das so ist, so wird, wenn die Theorie zu einer bestimmte Weise der Erkenntnis in Bezug auf irgendein Existierendes führt, dieses Existierende entweder im Gesetz mit Schweigen übergangen, oder es wird Erkenntnis hierüber vermittelt. Und sofern die Gebote etwas mit Schweigen übergehen, so erschließen es die Rechtsgelehrten mittels des gesetzesbezogenen Schlusses. Und wenn es im Text des Gesetzes steht, so ist der äußere Sinn des Textes entweder mit dem übereinstimmend, wozu der Beweis führt, oder verschieden. [...] Und wenn er verschieden ist, dann ist seine Auslegung erforderlich. Und der Gehalt der Auslegung besteht darin, dass die Bedeutung des Ausdrucks von der gegenstandsbezogenen Bedeutung zur übertragenen Bedeutung hin transponiert wird.

Moses Maimonides: Wegweiser für die Verwirrten (Dux neutrorum sive perplexorum) I Einl. § 9f.

Maimonides skizziert den Adressaten des Wegweisers für die Verwirrten und erklärt das Ziel des Werkes:
a) [1] Das Ziel dieses Buches die Ermahnung eines religiösen Menschen – er ist in seiner Seele demütig geworden, und in seiner Überzeugung verfestigte sich die Richtigkeit unseres Gesetzes (šarīʿa = die Torah) feststeht, so dass er vollkommen ist in Religion und Sitten –, der die philosophischen Wissenschaften betrachtet und ihre Inhalte kennt. Nun leitet ihn der menschliche Intellekt an und lädt ihn ein, sich in seinem Lager niederzulassen, und der äußere Sinn des Gesetzes (ṯawāhir aš-šarīʿa) hält ihn zurück. [...]
[2] Also bleibt er in Verwirrung und Schrecken: Entweder lässt er sich einladen von seinem Intellekt [...] – und dann wird er meinen, gegen die Grundlagen des Gesetzes fortzuwerfen –, oder soll er bleibt er bei dem, was er von ihm verstanden hat und lässt sich nicht von seinem Intellekt anleiten. Dann [...] wird er trotzdem sehen, dass er sich Schaden zugezogen hat und Verderben in seiner Religion (dīn), und er wird mit diesen eingebildeten Überzeugungen (iʿtiqādāt) zurückbleiben, wobei er durch sie in Angst und Unbehagen ist. [...]
b) [3] Wenn wir ihm nun diese Allegorien (muṯul) [in der Torah] erklären oder ihn ermahnen, dass dies Allegorien sind, dann wird er zurückfinden und aus dieser Verwirrung gerettet werden. Daher habe ich dieses Buch ,Wegweiser für die Verwirrten‘ genannt.

Moses Maimonides: Wegweiser für die Verwirrten (Dux neutrorum sive perplexorum) III 26, p. 570, 12-18

Maimonides vertritt die Meinung, dass es für jedes Gebot des jüdischen Gesetzes einen rationalen Grund gibt, selbst wenn der nicht immer bekannt ist
Diejenigen, die Theorie betreiben, [...] sind über unsere Gesetzgebung im Hinblick darauf, was für uns erlassen wurde, verschiedener Meinung. Einerseits gibt es solche, die hierfür überhaupt keine Ursache suchen und sagen, dass alle Gesetze einem reinen Wunsch [Gottes] folgen. Andererseits gibt es solche, die sagen, dass jedes Gebot und Verbot hiervon einer Weisheit oder einer Absicht folgen, in der ein bestimmter Zweck liegt, und dass alle Gesetze eine Ursache haben und im Hinblick auf einen bestimmten Nutzen hierüber gesetzlich angeordnet wurde. Im Hinblick darauf, dass es für sie alle eine Ursache gibt, wobei wir die Ursache für einige von ihnen nicht kennen und der Gehalt der Weisheit uns hierüber unbekannt ist, dies ist die Meinung von uns allen, vom Volk und von der Elite.