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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

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Al-Fārābī : Katalog der Wissenschaften IV S. 120f.

Abū Naṡr al-Fārābī (ca. 870-950) über die Leistungen der Metaphysik
Die göttliche Wissenschaft wird in drei Teile eingeteilt: Der erste untersucht das Existierende und die Dinge, die ihnen insofern zukommen, als sie existierend sind. Der zweite erforscht die Prinzipien der Beweise (mabādiʾ-l-barāhīn) in den einzelnen theoretischen Wissenschaften (al-ʿulūm an-naẓarīya). [...] Im dritten Teil wird [all] das Existierende erforscht, das weder Körper noch in Körpern ist. [...] Dann beweist sie, dass dieses in seiner Vielheit vom Geringeren zum Vollkommeneren aufsteigt, bis es schließlich am äußersten Ende des Vollkommenen zu dem Vollkommenen gelangt, demgegenüber es nichts Vollkommeneres geben kann. [...] Dann verdeutlicht sie, dass das, was diese Eigenschaften hat, jenes ist, von dem man überzeugt sein muss, dass es Gott (allah) ist. [...] Dann lehrt sie, auf welche Weise alles Existierende von ihm hervorgebracht wurde und auf welche Weise es von ihm die Existenz erhalten hat. Dann erforscht sie die Ordnungen von allem Existierenden und auf welche Weise dieses diese Ordnungen erhalten hat und in welcher Form jedes Einzelne davon würdig ist, auf der Stufe zu stehen, auf der es steht.

Al-Fārābī : Buch der Buchstaben § 111. 113; S. 133, 1-4. 14-16; 134, 12-15

Al-Fārābī über die Philosophie als (geistige) Elite
[1] Auch entwickelte sich das Verhältnis der Theologie zur Philosophie so, dass es ebenfalls in gewisser Weise ein dienendes [Verhältnis] dieser gegenüber ist, vermittelt durch die Religion. Denn sie [die Theologie] trägt bei und umfasst nur einen Nachweis dessen, was zuerst in der Philosophie durch Beweise nachgewiesen wurde, insofern es durch den Urheber der Meinung (bādī l-rayy [gemeint ist der Religionsstifter]) in der Masse bekannt gemacht wurde. [...]
[2] Die Elite schlechthin sind folglich die Philosophen schlechthin, und die übrigen, die für Elite gehalten werden, werden nur deswegen dafür gehalten, weil sie eine Ähnlichkeit mit den Philosophen aufweisen. [...] Als Elite gelten also in erster Linie und insbesondere schlechthin die Philosophen, dann die Topiker (al-ǧadalīyūn) und Sophisten; sodann die Gesetzgeber (wāḍiʿū n-nawāmis), sodann die Theologen und Juristen (al-mutakallimūn wa-l-fuqahāʾ). Und unter der Masse und dem einfachen Volk [...] gibt es jemanden, der mit der politischen Herrschaft betraut wurde, ob es nun gerecht war, dass man ihn betraute oder nicht.

Al-Fārābī : Die Erlangung des Glücks 1, S. 49

Al-Fārābī über die Wege zum Glücklichsein, verstanden als die Eudaimonie im aristotelischen Sinne
Die menschlichen Dinge, durch deren Vorhandensein bei den Völkern und Städten, diesen hierdurch sowohl das niedrigere Glück im ersten Leben als auch das entferntere Glück im jenseitigen Leben zukommt, gehören zu vier Gattungen: die theoretischen Tugenden (al-faḍāʾil an-naẓarīya), die Verstandestugenden, die ethischen Tugenden und die praktischen Fertigkeiten. Die theoretischen Tugenden sind die Wissenschaften, deren letztes Ziel darin liegt, dass sie die existierenden Dinge, und das was zu ihnen gehört, zu Denkobjekten (maʿqūla) machen, da sie nur durch diese mit Gewissheit erkannt werden.

Aristoteles: Nikomachische Ethik (Ethica Nicomachea) X 7, 1177a 14-25

Aristoteles über die theoretische Tugend als Basis der Eudaimonie
Das, von dem man annimmt, dass man seiner Natur nach herrscht, führt und Einsicht in die schönen und göttlichen Dinge hat, mag es etwas Göttliches sein oder das Göttlichste in uns – seine Tätigkeit gemäß der eigentümlichen Tugend wird das vollendete Glück sein. Dass diese Tätigkeit eine theoretische ist, wurde gesagt. [...] Diese Tätigkeit ist nämlich die höchste, wie auch der Geist von dem in uns Befindlichen wie seine Gegenstände von dem Erkennbaren. Sie ist ferner die kontinuierlichste Tätigkeit, da wir eher kontinuierlich betrachten können als irgendeine Handlung verrichten. [...] Unter den Tätigkeiten gemäß einer Tugend ist weiterhin nach übereinstimmender Auffassung die gemäß der Weisheit die lustvollste.

Al-Fārābī : Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt I, 1. 5 (p. 56. 68 Walzer)

Al-Fārābī über das erste Seiende als die eine erste Ursache
Das erste Seiende (al-mawǧūd al-awwal) ist die erste Ursache für die Existenz von allem übrigen Existierenden. [...] Wenn das Erste in seiner Substanz unteilbar ist, so kann seine Existenz, durch die es sich von allem anderen Seienden unterscheidet, nichts anderes sein als das, wodurch es wesentlich (fī-ḏātihi) ist. Daher besteht der Unterschied zu allem anderen in der Einheit in seinem Wesen.

Al-Fārābī : Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt I, 6 (p. 70-72 Walzer)

Al-Fārābī umschreibt das eine erste Seiende als sich selbst denkenden Intellekt
[1] Wenn aber eine Sache für sein Sein keine Materie braucht, dann ist sie in ihrer Substanz aktueller Intellekt (ʿaql bi-l fiʿl), und das ist der Status des Ersten. [...] Es ist Denkobjekt (maʿqūl), insofern es Intellekt ist, denn das, dessen Proprium Intellekt ist, dies ist das Denkobjekt, dessen Proprium Intellekt ist, und es benötigt, um Denkobjekt sein zu können, kein anderes Wesen außerhalb seiner selbst, das es denkt, sondern es selbst denkt sein Wesen. [...]
[2] Der Mensch zum Beispiel, ist ein Denkobjekt, und das, was an ihm Denkobjekt ist, ist kein Denkobjekt in Wirklichkeit, sondern Denkobjekt in Möglichkeit, und wird Denkobjekt in Wirklichkeit, nachdem ein Intellekt es gedacht hat. [...] Der Intellekt, mit dem wir denken, ist nun nicht das, was unsere Substanz ausmacht. Das erste Seiende ist aber nicht so, sondern Intellekt, Denkendes und Denkobjekt haben in seinem Fall einen einzigen Gehalt und ein einziges Wesen und eine einzige unteilbare Substanz.

Al-Fārābī : Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt II, 1. 2 (p. 90-94 Walzer)

Al-Fārābī über die kausale Wirkung der ersten Ursache und die Ordnung der Dinge
[1] Und seine Existenz [Gottes] (wuǧūd) ist aufgrund seines Wesens (ḏāt), und seine Substanz und seine Existenz hängen zusammen, und aus ihm folgt, dass von ihm her etwas anderes als es da ist. [...]
[2] Es gibt vielerlei Existierendes, und zusätzlich zu seiner Vielheit ist dieses auch unterschiedlich exzellent. Und die Substanz des Ersten ist die Substanz, aus der jede Existenz so ausströmt, wie diese Existenz ist, sei sie nun vollkommen oder mangelhaft. Und seine Substanz ist ebenfalls die Substanz, von der alles Existierende, wenn es von ihr ausströmt, seinen jeweiligen Rang erhält und von der jedem Seienden sein Anteil, der ihm angemessen ist, an Existenz und Rang im Vergleich zum Ersten zukommt.

Al-Fārābī : Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt XIII, 3. 5 (p. 202-206 Walzer)

Al-Fārābī definiert die Loslösung vom Körper und das Intellektwerden als die Eudaimonie
[1] Die ersten Denkobjekte sind die, die für alle Menschen gelten, und zwar beispielsweise, dass das Ganze größer ist als der Teil. [...]
[2] Das Vorhandensein der ersten Denkobjekte beim Menschen bildet seine erste Vollkommenheit. Aber diese Denkobjekte sind ihm nur gegeben, damit er sie dazu verwendet, die letzte Vollkommenheit (al-istikmāl al-aḫir), das Glücklichsein (as-saʿāda), zu erreichen. Denn dieses besteht darin, dass die menschliche Seele an Vollkommenheit in ihrer Existenz bis dahin gelangt, wo sie für ihr Fortbestehen keine Materie benötigt – denn sie wird eines der unkörperlichen Dinge und eine der immateriellen Substanzen –, und dass sie für immer fortwährend in diesem Zustand verbleibt, wobei ihr Rang jedoch unter dem Rang des aktiven Intellekts (al-ʿaql al-faʿʿāl) ist.

Al-Fārābī : Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt XIII, 6 (p. 206 Walzer)

In neuplatonischer Tradition wird das ethische Verhalten als der Weg zum Glücklichsein bestimmt
Dieser Zustand kann nur durch bestimmte willentliche Akte erreicht werden, von denen einige gedankliche, andere körperliche Akte sind [...], und zwar weil von den willentlichen Akten manche das Glücklichsein behindern. Das Glücklichsein ist das Gut, das seinem Wesen nach erstrebt wird, und es wird überhaupt nicht und zu keiner Zeit erstrebt, um durch es etwas anderes zu erreichen, und es gibt nichts anderes über dieses hinaus, Größeres als dieses, das der Mensch erreichen könnte.

Al-Fārābī : Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt XV, 1 (p. 228 Walzer)

Al-Fārābī über das Entstehen und die Ziele menschlicher Gemeinschaften
Jeder einzelne Mensch ist so ausgestattet, dass er für sein Fortbestehen und für das Erreichen der größtmöglichen Vollendung (kamāl) verschiedene Dinge benötigt, die er nicht alle allein sich beschaffen kann. [...] Deswegen kann der Mensch die Vollendung, deretwegen ihm seine natürliche Ausstattung gegeben wurde, nur in Zusammenschlüssen einer größeren Menge von einander Unterstützenden erreichen, in der jeder jeden mit etwas für ihn Notwendigem versorgt. [...] Aus diesem Grund haben sich die Menschen vermehrt und haben sich in der bewohnbaren Zone der Erde niedergelassen, so dass hier menschliche Gemeinschaften (al-iǧtimāʿa al-insānīya) entstanden sind, von denen es vollkommene und unvollkommene gibt.

Al-Fārābī : Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt XV 7. 8 (p. 238 - 242 Walzer)

Al-Fārābī über den vollkommenen Herrscher
[1] Der Herrscher der vortrefflichen Stadt (al-madīna al-fāḍila) kann nicht irgendein beliebiger Mensch sein, denn Herrschaft setzt zwei Dinge voraus: Das eine von ihnen ist, dass man durch die Veranlagung und die Natur dazu geeignet ist, und das zweite die willentliche Disposition und den Habitus für die Herrschaft, die sich bei jemandem entwickelt, der von Natur aus zu ihr veranlagt ist. [...]
[2] Dieser Mensch ist ein Mensch, über den überhaupt kein Mensch herrschen kann. Dieser Mensch ist nur ein Mensch, der vervollkommnet wurde und aktuell Intellekt und Denkobjekt geworden ist, dessen Imaginationsvermögen (al-quwwa al-mutaḫayyila) von Natur aus [...] dazu befähigt ist, entweder im Wachen oder im Schlaf vom aktiven Intellekt (al-ʿaql al-faʿʿāl) die Partikularia [...] und auch die Denkobjekte zu empfangen, indem es sie nachahmt. [...]
[3] In der Tat erwirbt jeder Mensch, dessen passiver Intellekt durch alle Denkobjekte vervollkommnet wurde sowie aktueller Intellekt und aktuelles Denkobjekt geworden ist [...], einen bestimmten aktuellen Intellekt (ʿaql bi-l-fiʿl), dessen Rang ein Rang über dem passiven Intellekt ist, der vollkommener und mehr von der Materie getrennt ist [...]. Er wird ,erworbener Intellekt‘ (ʿaql al-mustafād) genannt.

Al-Fārābī : Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt XV 9-11 (p. 244-246 Walzer)

Al-Fārābī über den vollkommenen Herrscher als Empfänger von Offenbarung
[1] Dieser Mensch ist der Mensch, dem der aktive Intellekt innewohnt. Geschieht dies in beiden Teilen seines Vernunftvermögens, nämlich im theoretischen und im praktischen, und dann noch in seinem Imaginationsvermögen, dann ist dieser Mensch jemand, dem eine Offenbarung zuteil werden wird (yūḥā ilaihi), und Allah – er ist hoch und erhaben – wird ihm die Offenbarung (yūḥī ilaihi) vermittels des aktiven Intellekts zuteil werden lassen. [...]
[2] Auf diese Weise [...] wird er ein Weiser, ein Philosoph (ḥakīm failasūf) und von vollkommener Intelligenz, nämlich durch den göttlichen Intellekt in ihm. Und durch die Emanation von diesem zu seinem Imaginationsvermögen wird er zum Propheten (nabīy). [...]
[3] Dies ist der Herrscher, über den überhaupt kein anderer Mensch herrschen kann, er ist der Imam (al-imām); er ist der erste Herrscher der vortrefflichen Stadt, er ist der Herrscher der vortrefflichen Nation und der Herrscher der bewohnbaren Erde.

Al-Fārābī : Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt XV 13f

Al-Fārābī über die Kriterien bei der Herrscherwahl
[1] Wenn es so einen Menschen in der vortrefflichen Stadt gibt [...], dann ist er der Herrscher. Wenn es sich aber ergibt, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt kein solcher Mensch zu finden ist, dann werden die Gesetze und Regeln, die dieser Herrscher und seine ihm gleichen Nachfolger festgelegt haben, fortbestehen. [...]
[2] Und im zweiten Herrscher [...] sollen sechs Bedingungen vorhanden sein: 1. soll er weise sein; 2. soll er die Gesetze und Überlieferungen im Gedächtnis haben; [...] 3. soll er gut im Erfinden von etwas sein, worüber von früher her kein Gesetz im Gedächtnis ist [...]; 4. soll er gut im Überlegen und in der Erfindungskraft sein [...] im Hinblick auf Neues, das auftritt [...]; 5. soll er gut in der Führung durch das Reden sein [...]; 6. soll er eine gute körperliche Konstitution haben. [...]
[3] Sind alle sechs Bedingungen in ihrer Gesamtheit getrennt und ist die Weisheit bei jemandem vorhanden, und das zweite und dritte bei jemandem, und das vierte bei jemandem und das fünfte bei jemandem und das sechste jemandem, dann werden sie, wenn sie übereinstimmen, ausgezeichnete Herrscher sein. [...]
[4] Sollte es nicht geschehen, dass es einen Weisen gibt, der mit dem Herrscher verbunden ist, dann wird diese Stadt nach einer Weile unzweifelhaft untergehen.

Al-Fārābī : Buch der Buchstaben N.N

Al-Fārābī über die Ziele von Aristotelesʼ Metaphysik
Viele Leute haben die vorgefasste Meinung, dass der eigentliche Sinn und Inhalt dieser Schrift der sei, dass in ihr die Lehre von dem Schöpfer, dem Intellekt, der Seele und dem darauf Bezüglichen behandelt würde; ferner, dass die Wissenschaft von der Metaphysik (ʿilm mā baʿd at-tabīʿa) und die von der Einheit Gottes (ʿilm at-tawḥīd) ein und dasselbe sei. [...] Wir behaupten nun, dass ein Teil der Wissenschaften partikulär, ein anderer Teil derselben aber universal sei. [...] Die universale Wissenschaft betrachtet nun das, was allem Existierenden gemeinsam ist, wie die Existenz (wuǧūd) und die Einheit (waḥda), und zwar in ihren Arten und Eigenschaften.

Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, Metaphysik I 2 § 12. 17f. (p. 13. 15 Cairensis)

Avicenna über den Gegenstand der Metaphysik und ihre Ziele
[1] Das Existierende qua existierendes (al-mawǧūd bi mā huwa mawǧūd) ist etwas all diesem [verschiedene Formen von Sein, die Gegenstände verschiedener Wissenschaften sind] Gemeinsames, und es muss zum Gegenstand dieser Fertigkeit gemacht werden [...], weil es ohne eine Untersuchung seiner Wesenheit und ohne einen Nachweis seiner selbst auskommt, so dass eine andere Wissenschaft die Aufklärung seines Zustands übernehmen müsste. [...] Diese Wissenschaft untersucht also die Zustände des Existierenden und die Umstände, die ihm zukommen, wie die Teile und die Arten, bis es zu einer Festlegung gelangt, mit der [zum Beispiel] der Gegenstand der Naturwissenschaft neu entsteht, so dass sie ihn dieser übergibt. [...]
[2] Und dies ist die Wissenschaft (ʿilm), das in dieser Fertigkeit gesucht wird, und es ist die erste Philosophie, weil es das Wissen der ersten Umstände in der Existenz ist – dies sind die erste Ursache und die Umstände in dem Allgemeinen, und die Existenz (wuǧūd) und die Einheit (waḥda) –, und dies ist auch die Weisheit (ḥikma), die das edelste Wissen über das edelste Objekt ist: das edelste Wissen in Bezug auf die Klarheit; über das edelste Objekt in Bezug auf Gott und die Ursachen nach ihm. Es ist also auch die Kenntnis der letzten Ursachen des Universums und auch die Kenntnis Gottes. Und deswegen kommt ihm die Definition ,göttliches Wissen‘ (ʿilm al-īlāhī) zu, der darin besteht, dass es von den Tatsachen, die von der Materie getrennt sind, in Bezug auf die Definition und die Existenz handelt.

Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, Metaphysik I 7, § 14 (p. 47 Cairensis)

Avicenna über die Notwendigkeit möglicher Existenz
Was das Mögliche betrifft, so ist hieraus seine Besonderheit klar geworden, und zwar dass es unbedingt eines anderen bedarf, dass es zu einem im Akt existierenden macht. Alles, was im Hinblick auf die Existenz möglich (mumkin al-wuğūd) ist, das ist hinsichtlich seines Wesens ewig ein möglich Existierendes. Aber manchmal stößt es ihm zu, dass seine Existenz durch etwas anderes notwendig wird. Dies stößt ihm nun entweder ewig zu, oder die Notwendigkeit seiner Existenz stammt von einem anderen auf nicht ewige Weise, sondern zu einer Zeit, aber nicht zu einer anderen Zeit.

Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, Metaphysik VIII 7 § 3. 6 (p. 363. 365 Cairensis)

Avicenna über die Struktur der ersten Ursache als Intellekt
(1) Und es [das erste Prinzip] liebt sein Wesen, das das Prinzip (mabdaʾ) jeder Ordnung ist und gut ist, insofern es so ist. Dabei wird die Ordnung des Guten (niżām al-ḫair) von ihm akzidentell mitgeliebt. Aber das erste Prinzip wird hierzu nicht von der Liebe bewegt, ja es erfährt von ihr überhaupt keine Wirkung, und es ersehnt und erstrebt nichts. Das ist sein Wille (īrāda), der frei ist vom Mangel, den die Liebe bewirkt, und von der Störung durch das Streben zu einem Ziel hin [...].
(2) Zu der Menge der Verstandesgegenstände (al-maʿqūlāt) gehört derjenige Verstandesgegenstand, dessen Prinzip das Erste unmittelbar ist. Aber seine Existenz fließt (yafīḍu) primär aus ihm. Und der Verstandesgegenstand, dessen Prinzip das Erste mittelbar ist, dies fließt sekundär aus ihm [...]. Einiges von diesem geht jedoch dem anderen voraus in der Rangfolge des Verursachenden und des Verursachten.

Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, De anima I 1 (p. 16 Rahman)

Ibn Sīnā (Avicenna) erklärt am Beispiel vom fliegenden Menschen, dass man die Seele ganz losgelöst von ihrer Funktion, den Körper zu beleben, denken kann
Jeder Einzelne von uns soll es sich so vorstellen, als wäre er plötzlich geschaffen und vollendet geschaffen, aber sein Blick abgeschirmt vom Betrachten des Äußeren; und als wäre er so geschaffen, dass er in der Luft fiele oder im Leeren, ohne dass ihm das Vorhandensein der Luft einen Widerstand entgegensetzte, den er wahrnehmen könne, und als bestünde eine Trennung in Bezug auf seine Glieder, so dass sie sich nicht berührten und keinen Kontakt zueinander hätten. Dann soll er bedenken, ob er die Existenz seines Wesens bejaht, so dass er an der Bejahung davon nicht zweifelt, dass sein Wesen existiert, und ob er zugleich damit die Begrenzung seiner Glieder nicht bejaht.

Al-Ġazālī : Die Inkohärenz der Philosophen Einleitung § 22. 25f. (p. 7. 10 Marmura)

Al-Ġazālī über seine Ziele und seine Vorgehensweise in der Inkohärenz der Philosophen
[1] Unser Ziel ist es, diejenigen zu warnen, die eine gute Überzeugung von den Philosophen haben und meinen, ihre Methoden seien frei von Widersprüchen.
[2] Dies gehen wir an durch Aufzeigen von Aspekten ihrer Inkohärenz. Deswegen trete ich in die Auseinandersetzung mit den Philosophen nur auf die Weise der Kritik und des Bestreitens ein, nicht auf die Weise von Ansprüchen und Behauptungen. [...]
[3] Ja, ihre Behauptung, dass die Beherrschung der logischen Disziplinen unerlässlich ist, trifft zu. Aber die Logik ist nicht auf sie beschränkt; sie ist lediglich die Disziplin, welche wir im Kalām „Buch der Theorie“ nennen, wobei sie zur Einschüchterung deren Bezeichnung zu „Logik“ änderten. [...]
[4] Wir werden deutlich zeigen, dass die Philosophen in ihren metaphysischen Wissenschaften nicht erfüllen konnten, was sie in dem Teil der Logik, der über den Beweis geht [d.h. den Analytica posteriora], als Bedingung für die Richtigkeit der Materie des Syllogismus gefordert haben, noch ihre Forderungen über die Schlussfigur eines Syllogismus, die sie im Buch des Syllogismus [d.h. den Analytica priora] vertreten, noch die Postulate, die sie in der Isagoge [des Porphyrios] und in den Kategorien dargelegt haben. Alles dies sind Teile der Logik sowie ihre Einführungen.

Al-Ġazālī : Die Inkohärenz der Philosophen XVII § 1 (S. 166 Marmura)

Al-Ġazālī begründet seine Zweifel am Konzept der Kausalität mit der Möglichkeit eines alternativen Modells
[1] Nach unserer Meinung ist die Verknüpfung (al-iqtirān) zwischen dem, was man gewöhnlich (fī l-ʿāda) für eine Ursache hält, und dem, was man für eine Wirkung hält, nicht notwendig (ḍarūrī). Vielmehr folgt bei zwei Dingen, die nicht miteinander identisch sind und bei denen die Annahme bzw. Bestreitung des einen nicht die Annahme bzw. Bestreitung des anderen einschließt, niemals mit Notwendigkeit (ḍarūra) aus der Existenz des einen die Existenz des anderen bzw. die Nicht-Existenz des einen mit Notwendigkeit aus der Nicht-Existenz des anderen. [...]
[2] Ihre Verknüpfung kommt zustande, weil Gott – erhaben ist er! – sie aufgrund seiner vorherigen Bestimmung in einer Aufeinanderfolge (ʿalā l-tasāwuq) erschafft, nicht deswegen, weil sie aus sich heraus notwendig und unauflöslich wäre (li-kawnihi ḍarūrīyan fī nafsihi ġayra qābilin li-l-farq). Vielmehr steht es in [Gottes] Macht, die Sattheit ohne das Essen zu schaffen, den Eintritt des Todes ohne einen tiefen Schnitt im Nacken zu erschaffen und das Leben [eines Menschen] trotz dieses tiefen Schnitts andauern zu lassen; das gilt für sämtliche Dinge, die miteinander verknüpft sind. Die falāsifa verneinen diese Möglichkeit und behaupten dies sei unmöglich.