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Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Zitatfinder

Ibn Sīnā (Avicenna): Autobiographie (vita) p. 28, 3-30, 2

Ibn Sīnā (Avicenna; 980-1037) berichtet, wie er philosophische Probleme angeht:
Und aufgrund von denjenigen Fragen, über die ich unsicher war [...], suchte ich wiederholt die Moschee auf, betete und flehte zum Schöpfer des Alls. [...] Sooft mich der Schlaf überwältigte oder ich eine Schwäche verspürte, wandte ich mich ab, um einen Becher Wein zu trinken, auf dass meine Fähigkeit mir wiederkehrt. Wenn ich bei einer Frage in Verlegenheit war [...], pflegte ich deswegen die Moschee aufzusuchen und zum Schöpfer des Alls zu beten und zu flehen. [...] Wenn mich der Schlaf übermannen wollte oder ich eine Schwäche verspürte, wandte ich mich einem Becher Wein zu, um wieder zu Kräften zu kommen.

Zacharias Rhetor (Scholastikos): Ammonios oder Diskussion über die Herstellung der Welt (Ammonius sive De opificio mundi disputatio) Zeile 92-110

Der Bischof Zacharias berichtet über die Diskussionen, die er als Student in Alexandria mit seinem Lehrer, dem neuplatonischen Philosophen Ammonios, Sohn des Hermias, geführt hat.
Einst befanden ich und einige andere der Studenten des (Philosophen) Ammonios, welche sich auf die „Physikvorlesung“ konzentrierten, im Vorlesungssaal, zur Frühlingszeit, wenn der Südwind sehr angenehm und kraftvoll weht, wenn der gewaltige Fluss gefällig mit seinen Wellen Ägypten bespült und die ägyptischen Äcker befeuchtet.

Ammonios aber erklärte und verdeutlichte uns, so wie die Ausleger von Orakelsprüchen, die Weisheit des Aristoteles, wobei er ganz nach Sophistenart hochmütig auf einem hohen Sessel saß.
Und als ein Wort über den Himmel vorüberfloss [...], bildete er folgende Prämisse: „Scheint der Himmel eine schöne Sache zu sein oder nicht?“ „Eine schöne“, sagte ich. [...]
„Wenn nun, sprach dieser, der Himmel schön ist, und der Vater und Schöpfer dieses Alls gut ist, wie können die Christen behaupten, dass nicht das Schöne mit dem Guten die gesamte Ewigkeit verbunden sei?

Abaelard, Peter: Leidensgeschichte (Historia calamitatum) p. 63-65

Peter Abaelard (1079-1142) über seinen Weg zur Philosophie:
[1] Da mein Vater mich, den Erstgeborenen, besonders ins Herz geschlossen hatte, achtete er sehr sorgfältig auf meine Erziehung. Je schneller und leichter ich im Studium der Schriften vorankam, desto größer wurde meine Begeisterung für sie. Diese Liebe ging so weit, dass ich auf den Glanz ritterlichen Ruhmes samt meinem Erbe und den Vorrechten der Erstgeburt zugunsten meiner Brüder verzichtete und vom Gefolge des Mars ganz Abschied nahm, um im Schoß der Minerva aufgezogen zu werden.
[2] Da ich die Bewaffnung mit dialektischen Argumenten allen Zeugnissen der Philosophie vorzog, vertauschte ich die anderen Waffen mit diesen und zog die Konflikte des Streitgesprächs allen allen Kriegstrophäen vor. Also wurde ich, indem ich disputierend durch verschiedene Provinzen zog – überall hin, wo ich von einer Blüte dieser Technik gehört hatte –, zu einem Nachahmer der Peripatetiker.
[3] Schließlich kam ich nach Paris, wo diese Disziplin schon länger einen großen Aufschwung genommen hatte, zu Wilhelm von Champeaux, meinem Lehrer, der damals in diesem Fach an Können und Ansehen herausragte. Ich blieb einige Zeit bei ihm und war ihm zunächst willkommen. Später wurde ich ihm außerordentlich lästig, da ich manche seiner Ansichten zu widerlegen versuchte, immer wieder argumentative Angriffe gegen ihn führte und manchmal im Streitgespräch überlegen erschien. [...]
[4] Hier nahm die Serie meiner Schicksalsschläge, die bis heute andauert ihren Anfang. Je mehr sich mein Ruhm ausbreitete, desto stärker loderte der Neid anderer.

Abaelard, Peter: Leidensgeschichte (Historia calamitatum) p. 72f. 79f

Peter Abaelard über persönliche Ablenkungen und ihre Folgen:
Unter dem Vorwand des Unterrichts gaben wir uns ganz der Liebe hin. Die wissenschaftliche Lektüre bot uns jene stillen Rückzugsmöglichkeiten, die sich die Liebe wünschte. Waren die Bücher aufgeschlagen, wurden mehr Worte über die Liebe als über den Lesestoff gewechselt, gab es mehr Küsse als Sätze, wanderten die Hände öfter zum Busen als zu den Büchern [...]. Der Onkel und seine Verwandten hörten davon [...]. Zutiefst entrüstet verschworen sie sich gegen mich. Eines Nachts [...] bestachen sie einen meiner Diener mit Geld und rächten sich an mir durch eine besonders grausame und schmachvolle Strafe, von der die Welt mit größtem Erstaunen hörte: Sie schnitten mir die Körperteile ab, mit denen ich begangen hatte, was sie beklagten. [...] Am meisten marterten mich [...] meine Studenten mit ihrem unerträglichen Geklage und Gejammere. Ich litt viel mehr unter ihrem Mitleid als am Leid aufgrund der Wunde, und ich fühlte mehr das Erröten als den Schlag. [...] Mir ging durch den Kopf, wie groß der Ruhm war, in dem ich eben noch gestanden hatte; wie schnell er durch diesen blamablen Fall verringert, ja ganz ausgelöscht worden war; wie gerecht das Urteil Gottes, das mich an jenem Teil des Körpers bestrafen ließ, mit dem ich Schuld auf mich geladen hatte.

Manfred (König von Sizilien): Begleitbrief (Epistula) Revue d. sc. philosoph. et théologiques 66, 1982

Begleitbrief König Manfred von Siziliens (reg. 1250-1266) zu einigen übersetzten Büchern:
[1] Den allgemeinen Lehrern des Pariser Studiums, die auf den Quadrigen der philosophischen Disziplin sitzen, Manfred, von Gottes Gnaden etc.
[2] Obwohl uns die mühevolle Masse der Geschäfte häufig hinwegzieht, lassen wir nicht zu, dass irgendein bisschen Zeit, das wir der Beschäftigung mit den vertrauten Dingen entzogen haben, müßig abläuft. Vielmehr investieren wir es voll und ganz gerne in die unbezahlte Einübung des Lesens [...], zum Erwerb der Wissenschaft, ohne die das Leben der Menschen nicht geleitet wird. [...]
[3] Als wir also einige Bücher [...] aufschlugen [...], kamen uns einige unter die Augen, die [...] entweder ein Fehler dieses Werkes oder eines Menschen noch nicht in die Kenntnis der lateinischsprachigen Welt geführt hatte. Da wir nun wollten, dass die altehrwürdige Autorität solcher Werke bei nicht durch eine mündliche Übersetzung, ohne einen Vorteil für viele, wieder jung wird, haben wir sogleich angeordnet, dass sie durch ausgewählte und beider Sprachen mächtige Männer, unter treuer Bewahrung der Jungfräulichkeit der Worte, übersetzt werden. [...]
[4] Hier nun haben wir mit Überlegung vorgesehen, vor allem Euch, als den hochberühmten Zöglingen der Philosophie [...], einige Bücher vorzulegen, die das neugierige Studium und die treue Sprache der Übersetzter schon herrichten konnten.

Albertus Magnus: Physik (Albertus Magnus) (Physica) I 1

Albertus Magnus über sein Projekt, die aristotelische Wissenschaft den Lateinern bekannt zu machen:
[1] Unsere Intention in der Naturwissenschaft ist es, nach unserer Fähigkeit den Brüdern aus unserem Orden Genüge zu tun, die von uns schon seit vielen Jahren fordern, dass wir für sie ein Buch über die Physik zusammenstellen, in dem sie die Naturwissenschaft vollständig besitzen und durch das sie die Bücher des Aristoteles kompetent verstehen können. [...]
[2] Unsere Vorgehensweise in diesem Werk wird aber darin bestehen, Aristoteles’ Anordnung und Meinung zu folgen und zu ihrer Erklärung und ihrem Beweis das zu sagen, was uns notwendig scheint, aber so, dass sein Text nicht erwähnt wird. Und außerdem werden wir Exkurse anstellen, die auftretende Probleme benennen und ergänzen. [...]
[3] Weil es aber drei wesentliche Teile der realen Philosophie gibt – ich meine derjenigen, die nicht durch unsere Tätigkeit in unseren Werken in uns verursacht wird, so wie die Moralwissenschaft – [...], nämlich Naturphilosophie oder Physik, Metaphysik und Mathematik, ist es unsere Absicht, alle drei Teile, den Lateinern verständlich zu machen.

Alberich von Reims: Die Philosophie (Philosophia) S. 29. 32f. [Revue des sciences philosophiques et théologiques 68, 1984]

Der ,Averroist’ Alberich von Reims (um 1250) über die Vorzüge der Philosophie
[1] Drei sind es, wie Empedokles sagt, in erster Linie unter der gesamten Vielfalt der Dinge, die das großartigste Geschenk der Großzügigkeit Gottes, nämlich die Philosophie, erleuchten und erheben: die Verachtung des beweglichen Überflusses, das Streben nach der göttlichen Seligkeit und die Erleuchtung des Geistes. [...]
[2] Denn das Sein des Menschen in seiner höchsten Vollkommenheit oder Vollständigkeit besteht darin, dass er durch die theoretischen Wissenschaften vollkommen ist, wie Averroes im Prolog [zum Kommentar] zum Achten Buch von [Aristoteles‘] Physik sagt. [...]
[3] Nun werden wir [hierhin] durch ein natürliches Streben gezogen, wie die Göttin der Wissenschaften an ihrem Anfang darlegt: "Alle Menschen" usw. [streben von Natur aus zu wissen] (Metaphysik I 1, 980a 21). Hierzu sagt der Kommentator: "Wir haben ein natürliches Verlangen, die Wahrheit zu wissen". Zu Recht, denn, wie Aristoteles im Zehnten Buch der Nikomachischen Ethik sagt, ist der Mensch nur Intellekt (X 7, 1178a 2-7).
[4] Dieser Intellekt wird aber, nach dem Zeugnis des genannten Averroes [...] durch die Philosophie vervollständigt. [...] Ihm stimmt Seneca zu, wenn er sagt: "Ohne Bildung" zu leben, "ist Tod und ein Begräbnis des lebenden Menschen" (Seneca, Brief 82, 3).

Albertus Magnus: Die fünfzehn Streitfragen (De quindecim problematibus) Einleitung

Ein besorgter Dominikaner wendet sich an Albertus Magnus:
Dem in Christus ehrwürdigen Vater und Herrn Albert [...] Bruder Aegidius aus dem Dominikanerorden. [...] Die Artikel, welche die Pariser Magister, die man als bedeutend in der Philosophie ansieht, in ihren Vorlesungen vortragen, [...] befand ich für wert, dass ihr diese, bereits in vielen Versammlungen bekämpft, durch den Hauch Eures Mundes auslöscht.
I. Dass der Intellekt aller Menschen der Zahl nach ein und derselbe ist.
II. Dass die Aussage ,der Mensch denkt’ falsch oder uneigentlich ist.
III. Dass der menschliche Wille aus Notwendigkeit will und wählt.
IV. Dass alles, was auf Erden geschieht, der Notwendigkeit der Himmelskörper unterliegt.
V. Dass die Welt ewig ist. [...]
VII. Dass die Seele, welche die Form des Menschen ist, insofern er Mensch ist, mit dem Untergang des Körpers untergeht. [...]
X. Dass Gott einzelnes nicht erkennt.

Thomas von Aquin: Summa theologiae I (Summa theologiae) I 1, 5 ad 2

Thomas von Aquin über die Philosophie als Magd der Theologie:
Diese Wissenschaft [die Theologie] kann etwas von den philosophischen Disziplinen übernehmen, aber nicht, weil sie sie notwendig bräuchte. [...] Denn sie übernimmt ihre Prinzipien nicht von anderen Wissenschaften, sondern unmittelbar von Gott durch Offenbarung. Und daher übernimmt sie nichts von anderen Wissenschaften so wie von höheren, sondern sie gebraucht sie wie niedrigere und Mägde.

Galen: Über den Gebrauch der Körperteile (De usu partium) XI, 14 p. 158f.

Der Philosophie-kundige Arzt Galen hält das jüdische Schöpfungsverständnis aus der Perspektive der antiken Naturphilosophie für lächerlich
Das ist nämlich das, worin sich unsere Meinung, d.h. die Platons und die der anderen bei den Griechen, die die Untersuchungen über die Natur richtig angegangen sind, von der des Mose unterscheidet: Denn ihm genügt es, dass Gott die Materie ordnen will, und sofort ist sie geordnet. Er glaubt nämlich, dass Gott alles möglich ist, selbst wenn er will, dass die Asche ein Pferd oder ein Ochse wird. Wir aber erkennen, dass das nicht so ist, sondern sagen, es gebe Dinge, die natürlicherweise unmöglich sind und dass Gott diese gar nicht erst in Angriff nimmt, sondern dass er aus dem Möglichen auswählt, dass das Beste geschieht.

Bibel: Jüdisches / Altes Testament: 1 Mose (Genesis) 15, 6

Die hebräische Bibel stellt Abraham als den ersten Gläubigen dar:
Abraham vertraute (Hebr.)/glaubte (Lat./Griech.) dem Herrn, und er rechnete es ihm als Gerechtigkeit an (Hebr.)/es wurde ihm (von ihm: im Griech. möglich) zur Gerechtigkeit hin gedacht/gerechnet (Griech./Lat.).

Paulus von Tarsus (Apostel): Römerbrief (Pauli epistula ad Romanos) 3, 21f.; 4, 4f.

Besonders dezidiert wird die Bedeutung des Glaubens vom Apostel Paulus (gest. 63 n. Chr.) vertreten, mit großem Einfluss vor allem auf die lateinische Glaubenstradition:
Jetzt ist aber unabhängig vom Gesetz die Gerechtigkeit Gottes [...] offenbar geworden, und zwar die Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben an Jesus Christus für alle Glaubenden; es gibt ja keinen Unterschied. Denn alle haben gesündigt. [...] Dem, der arbeitet, wird der Lohn nicht aus Gnade angerechnet, sondern aus Schuldigkeit, dem aber, der nicht arbeitet, aber glaubt [...], wird sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet.

Paulus von Tarsus (Apostel): Römerbrief (Pauli epistula ad Romanos) 7, 19f. 22f

Paulus über Gutes und Schlechtes:
Ich tue nicht, was ich will, das Gute, sondern, was ich nicht will, das Schlechte, dies tue ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann führe nicht mehr ich das aus, sondern die in mir wohnende Sünde. [...] Denn ich habe dem inneren Menschen nach Freude am Gesetz Gottes, aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meiner Vernunft widerstreitet und mich in dem Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist, gefangennimmt.

Johannes von Salisbury: Metalogicon (Metalogicon) III 4, Z. 46-58

Johannes von Salisbury (ca. 1115-1180) über ein Diktum des Bernhard von Chartres (gest. nach 1124):
[1] Bernhard von Chartres sagte, wir seien so wie Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, so dass wir mehr als sie und Entfernteres sehen können, allerdings nicht wegen der Schärfe des eigenen Sehvermögens oder der Größe des Körpers, sondern weil wir durch die Größe der Riesen in die Höhe geführt und erhoben werden. [...]
[2] Denn wer ist mit dem zufrieden, was etwa Aristoteles in der Hermeneutik sagt? Wer fügt nicht etwas anderswoher Genommenes hinzu? Denn alle stellen die Summe der gesamten Kunst zusammen und überliefern sie in leichten Worten. Sie bekleiden nämlich die Absichten der Autoren gleichwie in täglichem Kult, der auf gewisse Weise festlicher ist, wenn er durch die Würde des Alters klarer herausgestellt wird.

Sergios von Rēšʿaynā : Kommentar an Theodoros zu Aristoteles’ Kategorien f. 52rv = p. 168 Hugonnard-Roche, La logique d'Aristote, Paris 2004 [frz.]

Sergios von Rēšʿaynā (gest. 536) rühmt am Anfang seiner Philosophie-Einführung Aristoteles als den Ordner aller Wissenschaften
[1] Der Ursprung und Beginn aller Bildung war Aristoteles. [...] Denn bis zu der Zeit, zu der die Natur diesen Mann zum Existieren und Wohnen unter den Menschen gebracht hatte, waren alle Teile der Philosophie und der Bildung wie einfache Heilmittel aufgeteilt und verstreut, konfus und unwissenschaftlich bei sämtlichen Schriftstellern.
[2] Dieser allein aber sammelte, nach Art eines weisen Arztes, sämtliche Schriften, die zerstreut waren, und setzte sie dem Handwerk und dem Intellekt gemäß zusammen und fertigte sie zu dem vollkommenen Heilmittel seiner Lehre, das die mühevollen und schweren Krankheiten des Nicht-Wissens ausreißt und entfernt aus den Seelen derer, die sich sorgfältig mit seinen Schriften befassen.
[3] Denn ebenso wie diejenigen, die eine Statue herstellen, jedes einzelne Teil der Gestalt für sich herstellen, und so eines nach dem anderen zusammen¬setzen, wie das Handwerk erfordert, und eine vollkommene Statue machen, so kombinierte auch dieser, ordnete und passte ein, und setzte jedes einzelne Teil der Philosophie in die Ordnung, welche ihre Natur erfordert, und erstellte aus ihnen durch alle seine Schriften eine vollkommene und wunderbare Gestalt des Wissens von allem Seienden.

Abaelard, Peter: Ja und Nein (Sic et Non) Prolog

Peter Abaelard über Prinzipien der Hermeneutik
Zum Verständnis zu gelangen, hindert uns [1.] besonders eine ungewöhnliche Ausdrucksweise und meistens die verschiedene Bedeutung derselben Worte, wenn dasselbe Wort mal in dieser, mal in jener Bedeutung verwendet wird. [...] [2.] Auch dies gilt es sorgfältig zu beachten, dass wir nicht, wenn uns einiges von den Worten der Heiligen entgegengehalten wird, als stehe es im Widerspruch oder sei von der Wahrheit entfernt, durch die Aufschrift eines falschen Titels oder durch eine Verderbnis des Textes selbst getäuscht werden. [...] [3.] Wenn daher gelegentlich in den Schriften der Heiligen etwas von der Wahrheit Abweichendes aufscheint, ist es respektvoll, der Bescheidenheit entsprechend sowie eine Pflicht der Liebe, die "alles glaubt, alles hofft, alles aushält" (1 Korinther 13, 7) und nicht leichthin bei denen, die sie umschließt, Fehler vermutet, dass wir annehmen, diese Schriftstelle sei entweder nicht treu interpretiert worden oder verdorben, oder dass wir bekennen, dass wir sie nicht verstehen. [...] Der sorgfältige Leser wird sich bemühen, auf alle genannten Weisen die Streitpunkte in den Schriften der Heiligen aufzulösen. Aber wenn der Streitpunkt einmal so deutlich ist, dass er durch kein Vernunftargument gelöst werden kann, dann müssen die Autoritäten verglichen werden, und die, die stärker bezeugt und besser bestätigt ist, ist in erster Linie festzuhalten.

Thomas von Aquin: Über das Seiende und das Wesen (De ente et essentia) I 3

Thomas von Aquin (1225-1274) bemüht sich, verschiedene Begriffe in Einklang zu bringen:
Das Substantiv ,essentia‘ wird von den Philosophen in den Begriff ,Washeit‘ abgewandelt. Und eben dies ist, was der Philosoph häufig das ,Was-es-war-Sein‘ nennt, das heißt das, wodurch etwas hat, ein ,was‘ zu sein. Dies heißt aber auch ,Form‘, sofern mit ,Form‘ die ,certitudo‘ eines Dings gemeint ist. Mit noch einem anderen Substantiv heißt es ,Natur‘ [...], sofern nämlich ,Natur‘ all jenes heißt, ,was vom Verstand auf irgendeine Weise erfasst werden kann‘ (Zitat aus Boethius). [...] Das Substantiv ,Natur‘ scheint in dieser Anwendung eher die essentia einer Sache zu bezeichnen, sofern es eine Hinordnung zum eigentlichen Wirken der Sache hat [...]. Das Substantiv ,Washeit‘ hingegen bezieht sich auf das, was durch die Definition bezeichnet wird. Von ,essentia‘ spricht man jedoch, sofern durch es und in ihm das Seiende Sein hat.

Ibn Sīnā (Avicenna): Autobiographie (vita) Autobiographie, S. 32-35

Avicenna über sein Studium von Aristotelesʼ Metaphysik (Judentum und Islam)
Ich las das Buch der Metaphysik, aber ich verstand nicht, was darin steht, und mir blieb das Ziel seines Verfassers dunkel, bis dass ich die Lektüre vierzigmal wiederholt hatte und es auswendig wusste, wobei ich es trotzdem nicht verstand und nicht das darin liegende Ziel. [...] Eines Tages zur Zeit des Nachmittagsgebets befand ich mich bei den Buchhändlern, als ein Makler herantrat und in seiner Hand einen Band hielt, den er zum Verkauf ausrief. Er reichte ihn mir, aber ich gab ihn angewidert zurück, weil ich meinte, dass diese Wissenschaft zu nichts nutze sei. Er aber sagte mir: „Kaufe ihn doch, sein Besitzer braucht das Geld. Er ist billig, und ich verkaufe ihn Dir für drei Dirham“. So kaufte ich ihn, und siehe da, es war das Buch von Abū Naṣr al-Fārābī Über die Ziele des Buches der Metaphysik. Ich kehrte nach Hause zurück und ging eilends an die Lektüre. Da gingen mir mit einem Male die Ziele dieses Buches auf, denn ich kannte es ja bereits auswendig. Ich freute mich darüber und gab am folgenden Tag ein reichliches Almosen für die Armen aus Dankbarkeit gegen Gott, der erhaben ist.