Perkams-Zitatenschatz.de

Philosophische Zitate aus Antike und Mittelalter

Thema: Mensch und Seele

143 Zitate zu diesem Thema im Zitatenschatz:

  • Priskian aus Lydien [Pseudo-Simplikios]: In De anima/Kommentar zu Aristoteles’ De anima p. 1

    Der neuplatonische Aristoteles-Ausleger Priskian aus Lydien (um 520) erklärt in seinem Kommentar zu Aristoteles’ Schrift „Über die Seele“ (<i>De anima</i>) die Bedeutung des Themas
    Bemühen muss man sich in erster Linie um die Wahrheit über die Sachen selbst, und zwar neben der über die anderen insbesondere um die über die Seele, die für uns von Anfang an vertrauter als alles andere ist; danach auch über das Auffassen dessen, was denen richtig scheint, die den Gipfel des Wissens erreichen.
  • Platon: Phaidon (Phaedo) 84ab

    Die besondere Würde der Seele wurde nicht zuletzt von Platon in einflussreicher Weise herausgestellt, namentlich in seinem Dialog <i>Phaidon</i>, in dem er die Hoffnung der Seele des Philosophen darstellt
    [1] Die Seele eines philosophischen Menschen […] glaubt gewiss nicht, die Philosophie müsse sie erlösen, wenn sie sie aber erlöse, sei sie gezwungen, sich selbst wiederum den Freuden und Beschwernissen hinzugeben und das unermüdliche Werk der Penelope zu vollziehen, die einen Webstuhl in umgekehrter Weise gebraucht [und nachts das am Tage Gewobene wieder löst]. Sondern sie glaubt, sie besorge sich Ruhe davon, folge dem Denken, befinde sich immer in diesem, in Betrachtung des Wahren, Göttlichen und von Meinungen Freien sowie davon genährt, und müsse so leben, so lange sie lebt.
    [2] Und wenn sie sterbe, werde sie, beim Verwandten und Derartigem angelangt, von den menschlichen Übeln erlöst. Aus der so beschaffenen Nahrung heraus, müsse sie nichts Schreckliches fürchten […], so dass sie nicht infolge der Trennung vom Körper durch die Winde auseinandergerissen werde, und zerstreut und verteilt dahingehe und nichts mehr irgendwo sei.
  • Platon: Phaidon (Phaedo) 87c-88e

    Im <i>Phaidon</i> spricht der Thebaner Kebes unter anderem mit folgendem Bild über die Seele und weist damit auf die Schwierigkeit einer adäquaten Beschäftigung mit der Seele und ihrer Unsterblichkeit hin
    [1] Der Weber nämlich […], der viele Gewänder verbraucht und gewoben hat, ist als letzter gestorben, während diese viele waren, aber, glaube ich, vor dem allerletzten […] Genau dasselbe Bild, denke ich, sollte auf die Seele im Verhältnis zum Körper passen […], dass die Seele langlebig ist, der Körper hingegen schwächer und kurzlebiger.
    [2] Aber wenn man sagen will, dass jede der Seelen viele Körper verbraucht […] – denn wenn sich der Körper auflöste und zugrunde ginge, während der Mensch noch lebt, würde die Seele doch stets den verbrauchten neu weben –, dann wird es gewiss notwendig sein, dass die Seele, wenn sie zugrunde geht, das letzte Webstück zu diesem Zeitpunkt besitzt und lediglich vor diesem zugrunde geht. Wenn aber die Seele zugrunde gegangen ist, dann wird gewiss der Körper bereits die Natur der Schwäche zeigen und schnell verfaulend vergehen.
    [3] Folglich ist es, wenn man dieser Rede glaubt, noch nicht angemessen, zuversichtlich zu sein, dass dann, wenn wir sterben, unsere Seele irgendwie noch ist.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) I 1, 402a 5-7

    Die wissenschaftliche Bedeutung der Seelenlehre ist zunächst von Aristoteles zusammengefasst worden
    [1] Da wir voraussetzen, dass das Wissen zum Schönen und Ehrenhaften gehört, das eine [Wissen] aber mehr als das andere, entweder aufgrund seiner Genauigkeit oder, weil es sich auf Besseres und Bewunderungswürdigeres bezieht, möchten wir die Untersuchung über die Seele mit gutem Grund aufgrund von beidem an den ersten Platz stellen.
    [2] Die Kenntnis von ihr scheint aber für jede Wahrheit Großes beizutragen, besonders jedoch für die Natur. Denn die Seele ist gleichsam das Prinzip der Lebewesen.
  • Plotin: Enneade V 1, 2, 1-9

    Die nötige Selbsterkenntnis der Seele nach Plotin
    Dies soll nun zuerst jede Seele bedenken, dass sie alle Lebewesen erschuf, indem sie ihnen Leben einhauchte: die, welche die Erde nährt, und die, welche das Meer, die in der Luft und die göttlichen Sterne am Himmel; sie [schuf] die Sonne, sie diesen gewaltigen Himmel, und sie schmückte sie, und sie leitet sie in Ordnung, das sie eine andere Natur ist als das, was sie schmückt und was sie bewegt und was sie leben lässt. Notwendigerweise ist sie auch edler als dies, da dies entsteht und vergeht, während die Seele das Leben verlässt und anführt, da sie stets sie selbst, "indem sie sich selbst nie verlässt".
  • Plotin: Enneade I 1 [53], 10, 4-7

    Bei Plotin ergibt sich ein komplexer Status des „Wir“, d.h. der Person, unter der Bedingung einer Trennung von Seele und Körper, wie sie schon Platon annahm
    Denn auch von dem, was der Körper erleidet, sagen wir, dass wir es erleiden. Das „Wir“ ist also etwas Zweifaches – entweder es wird das Lebewesen mit dazugerechnet, oder es ist nur das, was bereits über diesem steht. D.h. das Tier ist der mit Leben versehene Körper; der wahre Mensch ist dagegen etwas anderes.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, Vorrede (p. 1f. Rahman)

    Ibn Sīnā/Avicenna (908-1037) betont die Bedeutung der Seele für die Naturwissenschaft noch stärker als Aristoteles
    [1] Und weil die Pflanzen und die Tiere als Substanzen in ihrem Wesen durch Form, nämlich die Seele, und Materie, nämlich den Körper und seine Glieder, konstituiert werden, und weil das Erste, worin das Wissen über etwas besteht, das ist, was von Seiten seiner Form kommt, hielten wir es für gut, zuerst über die Seele zu sprechen.
    [2] Und dass wir das Wissen über die Seele nicht Stück für Stück darlegen, so dass wir zuerst über die Pflanzenseele und die Pflanzen, so dann über die Tierseele und die Tiere, und dann über die menschliche Seele und den Menschen sprechen, das liegt nur an zwei Gründen:
    - Einer davon ist, dass dieses stückweise Vorgehen, das eines nach dem anderen in den Blick nimmt, zu dem gehört, was das Erlangen von Wissen über die Seele schwierig macht; und
    - der zweite, dass […] dadurch unvermeidlich die Seelenvermögen abgetrennt werden, deren Art und deren Gattungen je für sich behandelt werden.
  • Abraham Ibn Daud: Vorwort zur Übersetzung von Avicennas De anima p. 3f

    Der lateinische Übersetzer von Ibn Sīnās (Avicennas) „Über die Seele“, der Jude Abraham Ibn Daud (ca. 1110-1170), betont die geistige Bedeutung der Seele
    [1] Obgleich alle aus Seele und Körper bestehen, sind nicht alle so sicher über die Seele wie über den Körper. Denn während dieser der Sinneswahrnehmung unterliegt, erreicht jene nur der Intellekt allein. Daher glauben die Menschen entweder, dass die Seele nichts sei, oder wenn sie vielleicht aufgrund der Bewegung des Körpers vermuten, dass sie ist, halten die meisten im Glauben fest, was oder wie beschaffen sie ist, aber nur wenige überzeugen davon mit Vernunft.
    [2] Es ist aber unwürdig, dass der Mensch über den Teil von sich selbst, durch den er wissend ist, nichts weiß, das, wodurch er vernünftig ist, nicht mit der Vernunft selbst erfasst. Denn wie wird er sich selbst oder Gott lieben können, wenn er überzeugt ist, das, was in ihm am besten ist, nicht zu kennen?
    [3] Denn der Mensch ist ja an seinem Körper niedriger als praktisch jedes Geschöpf, aber allein die Seele überragt die übrigen, in welcher er das Ebenbild seines Gottes deutlicher führt als alle übrigen.
  • Abraham Ibn Daud: Vorwort zur Übersetzung von Avicennas De anima p. 3f

    Ibn Daud berichtet über das Zustandekommen und den Sinn seiner Avicenna-Übersetzung im Rahmen der aristotelischen Philosophie
    Deswegen habe ich Sorge getragen, Herr, Euren Befehl, das Buch des Philosophen Avicenna über die Seele zu übersetzen, zu Ende zu führen, damit […] für die Lateiner gewiss wird, was bisher unbekannt war. […] Ihr habt also das Buch, wobei wir vorsprachen und die einzelnen Wörter in der Volkssprache vortrugen, und der Erzdiakon Dominicus [Gundisalvi bzw. Gundissalinus] das Einzelne ins Lateinische übersetzte, das aus dem Arabischen übertragen war. Ihr sollt wissen, dass hierin all das, was Aristoteles in seinem Buch „Über die Seele“ sagte […], vom Autor versammelt wurde.
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) I, 1, 1 (p. 1, 13-34 Kübel)

    Im Gefolge des Aristoteles und Ibn Sīnā nimmt sich auch Albertus Magnus vor, wissenschaftlich über die Seele zu schreiben
    [1] Jetzt aber wenden wir den Griffel der Behandlung der Naturen der beseelten Wesen zu, wobei wir der Ordnung, die wir zu Beginn unserer Naturwissenschaft für uns festgelegt haben, durch alles folgen. Weil aber das formale Prinzip von allem Beseelten die Seele ist, kann man folglich das Beseelte nur durch die Erkenntnis seiner Seelen erkennen, ebenso wie auch ein jedes der anderen Dinge nur durch seine Form erkannt wird, weil die Form das Prinzip des Seins und der Erkenntnis ist. […]
    [2] Es gibt aber Werke der Seele und Eigenschaften so wie das sinnliche Wahrnehmen, Schlafen und Wachen, Sich-Ernähren und Atmen, Tod und Leben, über welche man […] sämtlich nach der Wissenschaft von der Seele Wissen erlangen muss, weil wir durch sie beim Wissen über die beseelten Körper viel Anleitung erfahren.
    [3] Obwohl also die Seele und ihre Werke und Eigenschaften kein beweglicher Körper sind, welcher den Gegenstand der Naturphilosophie bildet, ist doch die Seele das Seinsprinzip für einen bestimmten derartigen Körper. Und daher muss man in der Naturwissenschaft Untersuchungen über sie anstellen.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) I 1, 402a 5-7

    Aristoteles über die Schwierigkeit der Lehre von der Seele
    Wir suchen, ihre Natur und ihre Substanz zu betrachten und zu erkennen, sodann, was rings um diese hinzugekommen ist. Davon scheint manches eigentümliche Eigenschaften der Seele zu sein, anderes aber durch sie auch den Lebewesen zuzukommen. In jeglicher Hinsicht gehört es zum Schwierigsten, über sie eine bestimmte Überzeugung zu gewinnen.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) I 1, 402a 12-19

    Aristoteles betont die Schwierigkeit, die daraus resultiert, die richtige Methode für die Behandlung der Seele zu finden
    Wenn nun die Untersuchung auch vielen anderen Dingen gemeinsam ist, ich meine die über die Substanz, das heißt das ,Was ist es?‘, könnte es rasch jemandem so scheinen, als gäbe es eine bestimmte Methode für alles, worüber wir die Substanz erkennen können, so wie den Beweis für das auf akzidentelle Weise Spezifische. […] Wenn es aber nicht eine bestimmte und gemeinsame Methode gibt […], wird die Behandlung noch schwieriger. Denn man wird für ein jedes begreifen müssen, was die Vorgehensweise, wenn dies aber klar ist, ob es ein Beweis ist, eine Dihairese oder noch eine andere Methode [...].
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) I 1, 402a 12-19

    Aristoteles über mögliche Elemente einer wissenschaftlichen Rede über die Seele
    [1] Zuerst ist es vielleicht notwendig zu analysieren, in welcher der Gattungen und was die Seele ist, ich meine, ob sie ein Dieses-da, das heißt eine Substanz, oder ein Wie-Beschaffen oder ein Wie-Viel ist, oder auch welche andere der unterschiedenen Kategorien; weiterhin aber, ob sie zu dem in Möglichkeit Seienden gehört oder eher eine gewisse Entelechie ist.
    [2] Man muss auch schauen, ob sie geteilt oder ohne Teile ist […]. Denn gegenwärtig scheinen die, die über die Seele sprechen und Untersuchungen anstellen, nur die menschliche Seele in den Blick zu nehmen. Man muss aber vorsichtig sein, damit nicht verborgen bleibt, ob ihr Gehalt einer ist, wie der von ,Lebewesen‘, oder für jeden Einzelfall ein anderer, wie den von ,Pferd‘, von ,Hund‘, von ,Mensch‘, von ,Gott‘, während das allgemeine Lebewesen entweder nichts ist oder etwas Sekundäres;
    [3] ferner aber […], ob man zuerst die ganze Seele oder ihre Teile untersuchen muss.
  • Priskian aus Lydien [Pseudo-Simplikios]: In De anima/Kommentar zu Aristoteles’ De anima (p. 1 Hayduck)

    Der Neuplatoniker Priskian (um 515 n. Chr.) über seine Aufgabe als Kommentator von Aristoteles’ Schrift <i>De anima</i>
    [1] Deswegen denke ich auch, dass man sich mit Bedacht ganz besonders an Aristoteles’ Untersuchung über die Seele halten muss. Gewiss wurden viele und wunderbare Beobachtungen über die Seele auch von Platon angestellt […].
    [2] Seit aber Aristoteles seine Untersuchung über die Seele vollendete, herrscht, wie dem besten Beurteiler der Wahrheit, Jamblich [Platoniker des 4. Jhdts. n. Chr.], scheint, unter denen, die seine Aussagen erklären, große Uneinigkeit, und zwar nicht nur über die Auslegung des aristotelischen Textes, sondern auch ganz besonders über die Sachen selbst.
    [3] Deswegen schien es auch mir gut, die Übereinstimmung des Philosophen mit sich selbst und mit der Wahrheit zu ergründen und zu beschreiben, wobei ich Polemiken gegen andere vermeide, aber in den Zweifelsfällen das Richtige aus Aristoteles’ klaren Lehren und Aussagen nachweise und mich überall, soweit möglich, an die Wahrheit über die Sachen gemäß Jamblichs Darlegung in seinen eigenen Schriften über die Seele halte.
  • Johannes Philoponos : Kommentar zu Aristoteles’ „Über die Seele“ (In Aristotelis de Anima libros commentaria) p. 9, 3-5 und 20f.; 12, 24-31

    Der neuplatonische Ausleger Johannes Philoponos (ca. 500-573) formuliert eine aristotelische Grundfrage über die Seele
    Die einen sagen, dass die Seele im Allgemeinen unkörperlich sei, die anderen, sie sei ein Körper. […] Von denen, die meinen, sie sei unkörperlich, meinen einige, sie sei abtrennbar, andere, sie sei nicht abtrennbar.
  • Epikur: Brief an Herodot (Epistula ad Herodotum) § 63 und 67

    Für die Körperlichkeit der Seele argumentiert Epikur (ca. 340-270 v. Chr.)
    [1] Man muss mit Blick auf die Sinneswahrnehmungen und Eigenschaften sehen – denn so wird man die zuverlässigste Überzeugung erhalten –, dass die Seele ein leichter Körper ist, der über die ganze Zusammensetzung verteilt ist, der am ehesten dem Pneuma nahekommt, das eine bestimmte Beimischung von Wärme hat. […] Dies alles aber zeigen die Vermögen der Seele, das heißt die Eigenschaften, die Reaktionsfähigkeiten und die Gedanken sowie das, ohne welches wir sterben. Und gewiss muss, dass die Seele die Sinneswahrnehmung beherrscht, die stärkste Ursache liefern. […]
    [2] Man muss zuvor bedenken, dass wir ,unkörperlich‘ in Bezug auf die engste Beziehung des Wortes über das sagen, das wohl an sich denkbar ist. An sich ist es aber nicht möglich, Unkörperliches zu denken, abgesehen vom Leeren. Das Leere kann aber weder wirken noch leiden. […] Diejenigen, die sagen, die Seele sei unkörperlich, sagen also gar nichts.
  • Johannes Philoponos : Kommentar zu Aristoteles’ „Über die Seele“ (In Aristotelis de Anima libros commentaria) p. 12, 24-31

    Philoponos liefert selbst als Neuplatoniker Argumente für die Unkörperlichkeit der Seele von Seiten ihrer Rolle für den Körper
    Dass nun keine Seele ein Körper sein kann, ist aus folgender Perspektive deutlich. Jeder Körper ist gemäß seiner Natur auflösbar […]. Deswegen braucht er etwas, das ihn zusammenhält. Ist nun dieses Zusammenhaltende, weil es entweder eine Seele ist oder eine andere Kraft, ein Körper oder unkörperlich? Wenn es ein Körper ist, wird es auch selbst wieder etwas Zusammenhaltendes brauchen. Wiederum fragen wir auch über dieses, ob es ein Körper oder unkörperlich ist, und dieses bis ins Unendliche. [Aber das ist absurd.] Also ist es notwendig, dass die zusammenhaltende Kraft der Körper unkörperlich ist. Beim Beseelten ist aber die Seele das die Körper Zusammenhaltende.
  • Johannes Philoponos : Kommentar zu Aristoteles’ „Über die Seele“ (In Aristotelis de Anima libros commentaria) p. 12, 34-13, 17

    Philoponos argumentiert für die Unkörperlichkeit der Seele von der Sinneswahrnehmung her
    Das niedrigste der Erkenntnisvermögen der Seele ist die Sinneswahrnehmung […]. Wenn nun das niedrigste unkörperlich ist, umso mehr die höheren. […] Aristoteles sagt, dass kein Körper gleichzeitig mit dem gleichen Teil Gegensätzliches auffassen kann. […] Die Sinneswahrnehmung fasst aber Gegenteiliges gleichzeitig auf. […] Wie nun fasst das Sehvermögen gleichzeitig Gegenteiliges auf? Mit dem gleichen Teil, oder mit einem anderen das Schwarze, mit einem anderen das Weiße? […] Das Urteilende muss ja nun Eines und dasselbe sein. […] Die Sinneswahrnehmung greift also ohne Teile zu, und ist deswegen […] unkörperlich.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, I 1 (p. 4 Rahman)

    Ibn Sīnā (Avicenna) beginnt seine Ausführungen mit einem Beweis der Existenz der Seele
    [1] Wir sagen: Das Erste, worüber wir sprechen müssen, ist nun der Beweis für das Sein derjenigen Sache, die wir ,Seele‘ nennen; dann sprechen wir über das, was darauf folgt. Nun sagen wir: Wir sehen gewiss Körper, die sich ernähren, schlafen, Ähnliches gebären, und dieses nicht aufgrund ebendieser Körper. Also bleibt übrig, dass es in ihren Wesenheiten unkörperliche Prinzipien dafür gibt. Und die Sache, aus der diese Akte hervorgehen, und überhaupt alles, was ein Prinzip ist für das Hervorbingen von Tätigkeiten, die nicht auf eine übliche Weise, durch den Willen geschehen, nennen wir Seele.
    [2] Und diese Bezeichnung ist ein Name für diese Sache, nicht, insofern sie eine Substanz ist, sondern von Seiten dessen […], dass sie Prinzip für derartige Aktivitäten ist.
  • Robert von Melun: Zusammenstellung der Lehrsätze (Sententiae ) I, II, [0], praefatio et 1

    Robert von Melun (1100-1167) führt, vor Bekanntwerden von Aristoteles’ Seelenlehre, in seiner Sentenzensumme in eine typische Behandlung des Menschen ein, wie sie im 12. Jahrhundert, vor Bekanntwerden von Aristoteles und Avicenna, bei den Lateinern üblich war
    [1] Eines […] von dem, was in der Hauptaufzählung der begonnenen Abhandlung dargelegt wurde […], habe ich, soweit ich konnte, von Zweifel befreit, nämlich die Ursache für die Schöpfung des Menschen […]. Und daher […] ist das, was den zweiten Platz in der Aufzählung hat […], wie der Mensch geschaffen wurde, in einer sorgfältigen Untersuchung zu verfolgen. […]
    [2] Der Mensch wurde nun aus zwei Substanzen geschaffen, nämlich einer körperlichen und einer anderen unkörperlichen. Insofern er aus einer körperlichen besteht, hat er mit den anderen Lebewesen die Teilhabe an der Natur gemeinsam. Aber in der Zusammensetzung der Form weist er einen Unterschied zu anderen Lebewesen auf. Denn diese haben eine zur Erde geneigte und tendierende Form, womit bezeichnet ist, dass von ihnen nichts erstrebt werden muss außer dem Irdischen. Die Form des Menschen aber ist hoch aufgerichtet […], wodurch deutlich angezeigt wird, dass er das schmecken soll, was oben ist, und mit ganzem Bemühen des Geistes dorthin tendieren, wo Christus zur Rechten des Vaters sitzt.
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) (p. 8, 47-77 Kübel)

    Im Unterschied zu Vorgängern wie Robert von Melun bemüht sich Albertus Magnus um einen Anschluss an Aristoteles, dessen Seelenlehre inzwischen bekannt wurde
    [1] Wenn unser Intellekt die Gehalte aufnimmt […] und sie von der Materie abstrahiert […], dann stellt er in ihnen Universalität her, und so ist das Universale später [als die Einzeldinge] und nicht vorher, wie Platon sagte. […]
    [2] Dass das aber wahr ist […], bezeugt die Aristoteles-Übersetzung aus dem Arabischen: "Und wir müssen uns davor hüten, nicht zu wissen, ob die Definition von ihr [der Seele] dieselbe sei wie die Definition des ,Lebendigen‘ oder irgendworin eine andere, zum Beispiel die Definition von ,Pferd‘, von ,Hund‘, von ,Mensch‘ und von ,Gott‘. Das Lebendige ist aber entweder gar kein Universale oder ein Letztes [vgl. Text 3, [2]]." Und dies legt Averroes [Ibn Rušd, 1126-1198] so aus, wie hier gesagt wurde. Die Übersetzung aus dem Griechischen weicht von dieser ab und ist, glaube ich, fehlerhaft. Sie lautet nämlich so: "Man muss aber schauen, dass nicht verborgen bleibt, ob es einen Gehalt von ihr [= der Seele] gibt oder ob sie, wie die des Lebewesens ist, für jedes eine andere." […]
    [3] Aber weil wir feststellen, dass die griechischen Übersetzungen [im Allgemeinen] korrekter sind als die arabischen, […] sagen wir, dass das Lebewesen als Gattung einen Gehalt hat. Wenn aber ,Lebewesen‘ […] in einem jeden aufgefasst wird, dann ändert sich sein Sein aufgrund der Unterschiede der Arten, die ihm zugefügt wurden.
  • Platon: Phaidros (Phaedrus) 246a-b

    Platon vergleicht die menschliche Seele mit einem Wagen
    Sokrates: Die Seele gleiche der zusammengewachsenen Kraft eines gefiederten Gespanns und eines Wagenlenkers. Die Pferde und Wagenlenker der Götter sind nun alle selbst gut und von guter Abkunft, bei den anderen aber vermischt. Und bei uns steuert zuerst der Lenker das Gespann. Sodann ist bei ihm eines der Pferde schön und gut und von ebensolcher Abkunft, das andere aber von entgegengesetzter Abkunft und Beschaffenheit. Schwierig und mühsam ist daher notwendigerweise bei uns die Lenkung.
  • Platon: Der Staat (Platon) (De re publica) IV 439d-441a

    Eine Ursache für Platons Zweifel daran, dass Menschen tatsächlich gut sein wollen ist, dass die Teile der Seele – entgegen der sokratischen Lehre, wir handelten immer gemäß der Vernunft – in sich eine Unordnung der Seele hervorbringen, wie es auch die Teile des Staates tun
    [1] Gewiss werden wir nicht [....] ohne Grund behaupten, dass sie zweifach und voneinander verschieden sind, indem wir das, womit gedacht wird, das Denkende der Seele nennen, das aber, womit sie liebt, hungert und dürstet und über die anderen Begierden in Aufregung gerät, das nicht Denkende und Begehrende. [...]
    [2] Also nehmen wir auch anderswo [....] häufig wahr, wenn jemanden die Begierden entgegen dem Denken Gewalt antun, dass er sich beschimpft und auf das, was in ihm Gewalt ausübt, erzürnt ist, und dass der Zorn von so jemandem gleichsam unter zwei Streitenden ein Bundesgenosse für die Vernunft wird? [...] Was ist, wenn jemand glaubt, ihm sei Unrecht geschehen? Ist er nicht hierdrüber zornig und beklagt sich und kämpft zusammen mit dem, was gerecht erscheint? [...]
    [3] Oder ist – so wie in der Stadt drei Formen diese zusammenhalten, die Händler, die Helfer, die Beratschlagenden – auch in der Seele das Zornmütige das dritte, weil es von Natur aus ein Helfer für das Denkende ist, wenn es nicht durch schlechte Nahrung verdorben ist?
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) II 2, 413a 27-27; II 3, 414a 30-b 7

    Aristoteles erläutert seine Theorie der Teile und der Einheit der Seele
    [1] Das Beseelte wird vom Unbeseelten durch das Leben unterschieden. Da aber ,leben‘ auf mehrfache Weise ausgesagt wird, sagen wir auch dann, wenn nur eines davon vorhanden ist, dass etwas lebe, also [im Hinblick auf] Geist, Sinneswahrnehmung, Bewegung und Ruhe, nämlich dem Ort nach, ferner Bewegung der Ernährung nach, sowie Zugrunde-Gehen und Wachsen. Deswegen scheint alles Pflanzliche zu leben. […]
    [2] Von den Vermögen der Seele sind bei manchem alle genannten vorhanden, […] bei manchem einige von ihnen, bei manchem eine allein. […] Bei den Pflanzen ist aber nur das Nährvermögen vorhanden, bei anderem dieses und das Wahrnehmungsvermögen. Wenn aber das Wahrnehmungsvermögen [vorhanden ist], auch das Strebevermögen. Denn das Streben ist ja Begehren, Zornmut und Wollen.
    [3] Alle Lebewesen haben aber eine der Sinneswahrnehmungen, den Tastsinn. Was aber Sinneswahrnehmung besitzt, besitzt auch Freude und Beschwernis, so wie etwas Freudvolles und Beschwerliches. Wo aber dies vorhanden ist, ist es auch Begehren. Denn das Streben richtet sich auf das Freudvolle.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) II 2, 413a 27-27; 414b 20-27

    Aristoteles erklärt die Einheit der Seele
    Es ist also klar, dass der Gehalt von ,Seele‘ auf dieselbe Weise einer ist wie der von ,[geometrischer] Figur‘. Denn weder gibt es in diesem Fall eine Figur abgesehen vom Dreieck und dem darauf Aufbauenden, noch hier eine Seele abgesehen von den genannten. Es dürfte aber für die Figuren einen gemeinsamen Gehalt gegeben, der folglich zu allen passt, aber für keine Figur spezifisch ist. Ebenso ist es auch bei den genannten Seelen. Deswegen ist es lächerlich, den allgemeinen Gehalt [von Seele] zu untersuchen […], der doch für keine ein spezifischer Gehalt sein wird, und auch nicht der eigentümlichen und individuellen Form entsprechend.
  • Ammonios Hermeiou: Kommentar zur Eisagoge des Porphyrios (In Isagogen commentarium) Prolegomena, p. 3, 8f.; (11, 6-22 Busse)

    Ammonios, Sohn des Hermias, ein platonischer Philosophieprofessor in Alexandrien (ca. 435-517) und Lehrer des Philoponos, begründet die Zweiteilung der Philosophie und systematisiert die Lehre von den Seelenvermögen in folgender Weise
    [1] "Die Philosophie ist ein Ähnlichwerden mit Gott gemäß dem dem Menschen möglichen." So hat es nämlich Platon definiert (Theaitet 176b). [...] Nun wird die Philosophie in die theoretische und die praktische eingeteilt. Es ist aber wert zu fragen, aus welchem Grund. [...]
    [2] Weil wir gesagt haben, die Philosophie sei ein Ähnlichwerden mit Gott, weil Gott aber zweierlei Kräfte hat, die einen alles Seiende erkennenden, die anderen für uns niedriger Stehende Vorsehung treffenden, wird die Philosophie zu Recht in die theoretische und die praktische eingeteilt. [...]
    [3] Unsere Seele hat ebenfalls zweierlei Kräfte, zum einen erkennende wie Verstand, Denken, Meinen, Vorstellen und sinnlich wahrnehmen, zum anderen lebendige und strebende wie Wollen, Zornmut und Begehren. Der Philosoph nun will alle Teile der Seele schmücken und zur Vollendung führen: Durch das Theoretische wird das Erkennende in uns vollendet, durch das Praktische das Lebendige.
  • Origenes: Römerbriefkommentar (Origenes) 2, 14-16 (Bd. 1, p. 230-232 Heither)

    Der Kirchenvater Origenes deutet Paulus‘ Aussagen im Römerbrief als Theorie der Freiheit des Gewissens (libertas conscientiae)
    [1] Und der Apostel [Paulus] sagt, dass diejenigen das Zeugnis eines gesunden Gewissens besitzen, die das in die Herzen eingeschriebene Gesetz einhalten. Daher scheint es notwendig zu erörtern, was dasjenige sei, das der Apostel Gewissen nennt; ob es eine andere Substanz ist als das Herz oder die Seele. Denn von diesem Gewissen wird auch anderswo [in der Bibel] gesagt, dass es tadelt und nicht getadelt wird und den Menschen richtet, selbst aber nicht gerichtet wird. [...]
    [2] Weil ich also bei ihm [diesem Vermögen] eine so große Freiheit sehe, dass es sich immer an den guten Taten freut und über sie jubelt, für die schlechten aber nicht angeklagt wird, sondern die Seele, der es anhängt, tadelt und anklagt, meine ich, dass es der Geist ist, von dem der Apostel sagt, er sei mit der Seele [...] verbunden wie ein Erzieher und Leiter, um sie über das Bessere zu ermahnen und über die Schuld zu strafen und anzuklagen.
  • Barhadbeschabba von Ḥalwān: Ursache der Gründung von Schulen (Causa fundationis scholarum) (p. 341f. Scher)

    Barḥaḏbšabbā (um 600), ein Lehrer an der christlichen Schule von Nisibis im Perserreich, erklärt die Fähigkeiten unserer Seele und führt die Gedanken des Platon, Origenes und Ammonios zusammen
    (1) Diese rationale und erleuchtete Intelligenz [in uns] ist eine Ähnlichkeit zu Gott ihrem Schöpfer. [...] Im Hinblick darauf, dass unsere Rede auf diese Intelligenz zielt, die in uns ist, wollen wir sehen, wie sie in uns ist, und welches ihre Wohnstätte ist. [...]
    (2) Es ist dann folglich ihre Ursache und ihr Fundament die Seele, welche in uns gebunden ist. Das, was an Erkenntniskräften (an) ihr ist, sind drei: Verstand, Denken und Meinen. Aus diesen gehen drei andere hervor, und zwar Begehren, Zornmut und Wollen.
    (3) Die Intelligenz aber steht oberhalb von ihnen allen, wie der weise Wagenlenker, der geschickte Steuermann, der in die Ferne schaut, und sein Schiff, das diese Schätze trägt, fernhält von den Felsen des Irrtums und von den Nebeln der Unkenntnis, indem der erste und theoretische Teil die Erkenntniskräfte reinigt, so dass sie nicht etwas für ein anderes erkennen, sondern die Wahrheit und die Bestimmtheit der Dinge erkennen. Durch den anderen, den praktischen Teil wiederum reinigt sie die Lebenskräfte und bereitet sie vor, dass ihre Lebensführung hierin nicht in unnützen Dingen besteht, sondern dass ihre Bewegungen richtig und trefflich erfolgen.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, I 5 (p. 50f. Rahman)

    Ibn Sīnā betont die Rolle des Intellekts (<i>al-ʿaql</i>), differenziert das Phänomen weiter auf und führt innere Sinne wie das Einschätzungsvermögen ein
    [1] Bedenke nun und betrachte die Lage dieser Vermögen, wie einige über andere herrschen und wie einige anderen dienen.
    [2] Dann musst Du den erworbenen Intellekt als Herrscher ansetzen, und alle dienen ihm, und er ist der äußerste Gipfel. Sodann dient dem Intellekt im Akt der habituelle Intellekt, und der materielle Intellekt dient, insofern es in ihm Aufnahmebereitschaft gibt, dem habituellen Intellekt. Sodann dient der praktische Intellekt all diesen, weil die körperliche Zusammensetzung […] wegen der Vollendung, Reinigung und Läuterung des theoretischen Intellekts erfolgt. Und der praktische Intellekt leitet diese Zusammensetzung.
    [3] Sodann dient dem praktischen Intellekt das Einschätzungsvermögen, und diesem dienen zwei Vermögen, das ihm vorhergehende und das ihm nachfolgende Vermögen. Dabei ist das Vermögen, das ihm nachfolgt, dasjenige, das aufbewahrt, was das Einschätzungsvermögen erbracht hat, also das Gedächtnis. Und das Vermögen, das ihm vorhergeht, sind alle dem Lebewesen zukommenden Vermögen.
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) I 1, 1 (p. 2 Kübel)

    Schon zu Beginn seiner Schrift über die Seele betont Albert, in der Sprache des lateinischen Mittelalters, die Freiheit des Denkens und Wollens der rationalen Seele
    [1] Die Kräfte […] der rationalen Seele sind ohne irgendein körperliches Werkzeug tätig. Deswegen sind sie auch allgemein in Bezug auf alles tätig. Denn der Intellekt erkennt alles, und die Vernunft denkt über alles nach, und der Wille ist frei dazu, sich allem zuzuwenden, was er will. […] Die rationale Seele scheint also mit ihren Kräften nicht das Prinzip und die Form oder Vollendung (welche die Griechen endelechia nennen) irgendeines Körpers oder Körperteils zu sein, und es folglich nicht dem Physiker zuzukommen, sie zu behandeln.
    [2] Aber man muss erkennen, dass die rationale Seele im Körper des Menschen ist und seine Vollendung ist, insofern er Mensch ist. Und insofern sie die Vollendung eines Menschen ist, hat sie keine Anbindung an irgendeinen Teil des Menschen. Vielmehr wird sie dadurch, dass sie frei und allgemein erkennt und will, von allem anderen abgetrennt, mit dem sie in der Gattungsnatur übereinstimmt. Und sofern die Seele die Vollendung dieses Beseelten ist, fällt sie unter die Betrachtung des Naturphilosophen.
  • Albertus Magnus: Über den Intellekt und das Intelligible (De intellectu et intelligibili) I 6 (p. 11 Donati)

    Die Universalität der Seele ergibt sich für Albertus Magnus aus ihrer Verbindung mit der ersten Ursache
    Es ist […] leicht […], die Natur der Intellektseele zu bestimmen, weil sie diese Natur aus dem Hervorgehen von der ersten Ursache heraus besitzt, das nicht bis zur Vermischung mit Materie emaniert. Und daher wird sie von einigen Weisen unseres Gesetzes ,Bild Gottes‘ genannt. Denn aus der so beschaffenen Angleichung an die erste Ursache hat er einen allgemein wirkenden Intellekt, der so wie das Licht abgetrennt ist. […] Daraus jedoch, dass sich diese Natur einem organischen physischen Körper annäherte, sinkt ihre Intellektnatur ein wenig [in die Körperwelt] ein, und daher hat sie einen möglichen Intellekt, der etwas von Vorstellung und Sinneswahrnehmung empfängt. Und dadurch, dass diese Natur abgetrennt und nicht an sich in die Materie eingetaucht ist, muss sie allgemein sein. Und daher ist die Seele fähig, allgemein alles zu erkennen. […] Die sinnliche Erkenntniskraft, die ein Akt des materiellen Organs ist, kann nur bestimmte [Erkenntnisse] empfangen.
  • Platon: Die Gesetze (Platon) (Nomoi) X 895a-896b, gekürzt

    Platon entwickelt die These, dass man am Anfang der Weltentstehung eine erste Bewegung annehmen muss und weist die Seele als das Selbstbewegte auf
    [1] Wenn alles zugleich Gewordene irgendwie feststünde, so wie es die meisten der derartigen [atheistischen Materialisten] zu behaupten wagen, welche erste Bewegung von den genannten [Arten der Bewegung] muss in ihm notwendigerweise zuerst entstehen? Gewiss die, die sich selbst bewegt. Denn durch etwas anderes wird sie sich vorher wohl nicht verändern, wenn keine vorherige Veränderung in ihr wäre. […]
    [2] Das, dessen Name ,Seele‘ lautet, welchen Gehalt hat dies? Haben wir einen anderen als den gerade genannten, nämlich die Bewegung, die sich selbst zu bewegen vermag? [...] Wenn sich das aber so verhält, sehnen wir uns dann noch danach, dass nicht hinreichend gezeigt ist, dass die Seele, das erste Werden und die Bewegung des entstandenen und in Zukunft Seienden und von allem, was einander nicht entgegensteht, dasselbe ist, weil ja deutlich wurde, dass sie für alles die Ursache für jegliche Veränderung und Bewegung ist?
  • Platon: Die Gesetze (Platon) (Nomoi) X 896b-d, gekürzt

    Platon erklärt, warum die Seele die Ursache des Guten und Schlechten sein muss
    [1] Werden wir wohl richtig und in entscheidender Weise ganz wahr und vollkommen sagen, dass die Seele bei uns früher entstanden ist als der Körper, der Körper aber als zweites und späteres, von Natur aus Beherrschtes, während die Seele herrscht? [...] – Ganz gewiss. – Das Verhalten, die Sitten, die Wollensregungen, Gedanken, wahren Meinungen, Besorgnisse und Erinnerungen sind also früher als die Länge, Breite, Tiefe und Kraft der Körper entstanden, wenn die Seele früher ist als der Körper? – Notwendigerweise. – […]
    [2] Ist es also auch notwendig, dem sich daraus Ergebenden zuzustimmen, dass die Seele die Ursache für das Gute und Schlechte, in sich Gute und Hässliche, Gerechte und Ungerechte und aller Gegensätze ist, wenn wir sie als Ursache von allem ansetzen?
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) I 2, 403b 24-31 und 405b 32-406a 16

    Aristoteles kritisiert die Vorstellung, die Seele könne selbstbewegend sein
    [1] Das Beseelte scheint sich gewiss vom Unbeseelten vor allem durch Zweierlei zu unterscheiden, durch Bewegung und durch Wahrnehmen. Wir haben auch von unseren Vorgängern im Großen und Ganzen diese zwei Punkte über die Seele überliefert bekommen.
    [2] Denn es sagen einige, […] die Seele sei das Bewegende, wobei sie glauben, etwas selbst nicht Bewegtes könne nicht etwas anderes bewegen. […]. Vielleicht […] ist es nicht nur falsch, dass ihre Substanz so ist, wie die sagen, die behaupten, die Seele sei etwas Selbstbewegendes oder bewegen Könnendes, sondern es gehört zum Unmöglichen, dass ihr selbst Bewegung zukommt. […]
    [3] Jetzt untersuchen wir über die Seele, ob ihr an sich selbst Bewegung zukommt und sie an Bewegung Anteil hat. Da es nun vier Bewegungen gibt – Ortsbewegung, Veränderung, Schrumpfen, Wachstum –, muss sie entweder auf eine dieser Weisen, auf mehrere oder auf alle bewegt werden. Wenn sie aber nicht akzidentell bewegt wird, muss ihr die Bewegung von Natur aus zukommen. Wenn das aber der Fall ist, auch ein Ort. Denn alle genannten Bewegungen finden an einem Ort statt.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) II 1, 412a 11-b 9

    Aristoteles’ umrisshafte Definition von Seele
    [1] Substanzen scheinen in erster Linie die Körper zu sein, und von diesen die natürlichen. […] Von den natürlichen haben manche Leben, manche aber nicht. Leben nennen wir Ernährung, Wachstum und Schrumpfen durch sich selbst. Folglich ist jeder natürliche Körper, der am Leben Anteil hat, eine Substanz […] als zusammengesetzte. Weil auch das so Beschaffene ein Körper ist, nämlich einer, der Leben hat, ist die Seele folglich kein Körper. […]
    [2] Die [Seele als] Substanz ist aber Entelechie […] für einen so beschaffenen Körper. Diese wird aber auf zweierlei Weise ausgesagt, zum einen so wie ein Wissen, zum anderen so wie ein Betrachten. Nun ist klar, dass sie wie ein Wissen [so ist]. Denn dadurch, dass die Seele vorhanden ist, gibt es Schlaf und Wachsein. Das Wachsein verhält sich aber analog zum Betrachten, der Schlaf zum Haben und nicht Aktiv-Sein. […] Wenn man nun etwas Gemeinsames über jede Seele sagen muss, ist sie gewisse eine erste Entelechie eines natürlichen organischen Körpers.
    [3] Wenn man nun etwas Gemeinsames von jeder Seele sagen soll, so ist sie wohl die erste Vollendung eines natürlichen, organischen Körpers. Daher darf man auch nicht fragen, ob die Seele und der Körper eines sind, ebenso wenig wie bei dem Wachs und der Figur oder überhaupt der Materie von irgendetwas und dem, dessen Materie sie ist. Denn da das Eine und das Sein in mehrfacher Bedeutung ausgesagt werden, ist die Vollendung beides in entscheidender Bedeutung.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) II 1, 413a 3-10

    Aristoteles fragt sich nach der Abtrennbarkeit der Seele
    Dass aber die Seele nicht abtrennbar vom Körper ist, oder zumindest gewisse Teile von ihr, wenn sie von Natur aus Teile hat, erweist sich deutlich. [...] Indes bei einigen Teilen spricht nichts dagegen [, dass sie abtrennbar sind], weil sie von keinem Körper Entelechie sind. Ferner ist unklar, ob die Seele so Entelechie für den Körper ist wie der Schiffer für das Schiff. Dass die Seele also nicht abtrennbar vom Körper ist, oder Teile von ihr, wenn sie von Natur aus geteilt ist, ist nicht zweifelhaft. […] Allerdings hindert bei einigen [Teilen] nichts daran, weil sie keine Entelechien von irgendeinem Körper sind. Ferner ist zweifelhaft, ob die Seele so Entelechie des Körpers ist wie der Schiffer für das Schiff.
  • Johannes Philoponos : Kommentar zu Aristoteles’ „Über die Seele“ (In Aristotelis de Anima libros commentaria) (p. 9, 21-10, 3 und 12, 10-12 Hayduck)

    Johannes Philoponos gibt einen Überblick über den antiken Diskussionsstand zur Frage nach der Abtrennbarkeit aus neuplatonischer Perspektive
    [1] Und von denen, die [die Seele] nicht abtrennbar nannten, sagten manche, sie sei das Verhältnis der Mischung [der Elemente], wie zum Beispiel: Wenn doppelt so viel Feuer mit Wasser vermischt wird […] oder etwas derartiges, macht das die Seele. […] Andere aber [sagten, sie sei] die Mischung selbst, andere, eine Entelechie. Entelechie aber ist die Vollendung, das heißt die Form für das Zugrundeliegende.
    [2] Von denen, die behaupteten, sie sei abtrennbar, sagten manche, die gesamte Seele sei abtrennbar, die rationale, die nicht rationale und die pflanzliche, zum Beispiel [der Mittelplatoniker] Numenios [2. Jhdt. n. Chr.], durch einige Aussagen Platons getäuscht, der im Phaidros sagt "jede Seele ist unsterblich" [245c], wobei er dort gewiss ein Argument über die menschliche Seele entfaltet. […] Die anderen aber [sagten, jede sei] nicht abtrennbar und deswegen sterblich, wie [der Aristoteliker] Alexander von Aphrodisias [um 200 n. Chr.]. […]
    [3] Sowohl Platon als auch Aristoteles scheint es so, dass weder jede Seele vom Körper abtrennbar sei, noch jede nicht abtrennbar, sondern die rationale abtrennbar, die übrige aber nicht abtrennbar.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, I 1 (p. 16 Rahman)

    Ibn Sīnā erklärt, in neuplatonischer Tradition, die Rolle der Seele als eine abgetrennte Vollendung der Körpers
    [1] Nun ist klar, dass die Seele nicht ein Körper ist, sondern ein Teil des Lebewesens und der Pflanze, der eine Form oder wie eine Form oder wie eine Vollendung ist […].
    [2] Ferner ist jede Form eine Vollendung, und nicht jede Vollendung eine Form. Der König ist ja die Vollendung der Stadt, und der Kapitän die Vollendung des Schiffs, und doch sind sie keine Formen der Stadt und des Schiffs. Und was von den Vollendungen wesenhaft abgetrennt ist, ist nicht wirklich eine Form für die Materie und in der Materie. […] Und man ist sich einig, dass diese Sache im Verhältnis zur Materie Form ist, und im Verhältnis zum Kompositum [aus Körper und Form] Ziel und Vollendung sowie im Verhältnis zur Bewegung Wirkursache und Bewegungskraft.
    [3] Und wenn das so ist, dann benötigt die Form eine Beziehung zu einer von der Substanz, die ihretwegen wirklich ist, entfernten Sache und zu einer Sache, kraft derer die an sich in Möglichkeit befindliche Sache wirklich ist. […] Also ist von daher klar, dass wir, wenn wir zur Erklärung der Seele sagen, dass sie eine Vollendung ist, auf ihren Gehalt hinweisen, der zugleich alle Arten von Seele umfasst.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, De anima I 1 (p. 16 Rahman)

    Ibn Sīnā (Avicenna) erklärt am Beispiel vom fliegenden Menschen, dass man die Seele ganz losgelöst von ihrer Funktion, den Körper zu beleben, denken kann
    Jeder Einzelne von uns soll es sich so vorstellen, als wäre er plötzlich geschaffen und vollendet geschaffen, aber sein Blick abgeschirmt vom Betrachten des Äußeren; und als wäre er so geschaffen, dass er in der Luft fiele oder im Leeren, ohne dass ihm das Vorhandensein der Luft einen Widerstand entgegensetzte, den er wahrnehmen könne, und als bestünde eine Trennung in Bezug auf seine Glieder, so dass sie sich nicht berührten und keinen Kontakt zueinander hätten. Dann soll er bedenken, ob er die Existenz seines Wesens bejaht, so dass er an der Bejahung davon nicht zweifelt, dass sein Wesen existiert, und ob er zugleich damit die Begrenzung seiner Glieder nicht bejaht.
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) (p. 67, 47-62 und 70, 15-32 Kübel)

    Albertus Magnus flechtet Avicennas Position in den Zusammenhang seiner neuplatonisch angeregten Naturphilosophie ein
    [1] Wir haben gesagt, dass es […] natürliche Formen auf zwei Weisen gibt: Es gibt eine, die mehr der Natur eines natürlichen Körpers folgt, in der sie eine über diesen nicht erhabene Form ist […]. Es gibt aber eine andere, die der ersten Wirkursache schlechthin näher steht, welche alle Formen hervorbringt, und dies ist eine unkörperliche Wesenheit, die einen Körper bewegt und vollendet; die auf die gesamte Natur Einfluss ausüben kann, weil sie aufgrund der Ordnung der Natur oberhalb der Natur jeder körperlichen Form ist; und diese wird ,Seele‘ genannt.
    [2] Es ist klar, dass nicht der intellektive Teil [der Seele] selbst abgetrennt ist, sondern auch die gesamte intellektive Seele. […] Denn weil die Teile der Seele natürliche Vermögen von ihr sind, die aus ihr fließen, ist es unmöglich, dass ein abgetrenntes Vermögen aus einer Wesenheit fließen kann, die mit dem Körper verbunden ist. Aber im Gegenteil ist es möglich, dass von dem, was wesenhaft abgetrennt ist, Vermögen fließen, die im Körper wirken, weil jedes höhere Vermögen alles kann, was ein niedrigeres Vermögen kann, und nicht umgekehrt. […] Ebenso ist jede Fertigkeit abgetrennt, insofern sie in die Seele des Fertigenden ist, und doch führt sie ihre Vermögen nicht ohne körperliche Werkzeuge aus.
  • Siger von Brabant: Fragen zum dritten Buch von Aristoteles’ De anima (Quaestiones in tertium De anima) q. 1, resp

    Siger von Brabant (ca. 1240-1284) formuliert in der Nachfolge des Ibn Rušd (Averroes) seine Position
    [1] Das Vegetative und das Sinnliche Seelenvermögen werden aus einer Möglichkeit der Materie heraus gebildet, wenn ein Nachkomme gebildet wird. Wenn also das Vegetative und das Sinnliche von außen kämen, […] wäre es notwendig, dass im Menschen ein doppeltes Vegetatives und ein doppeltes Sinnliches wäre. Das ist […] inakzeptabel.
    [2] Deswegen […] ist zu sagen, dass das Denkvermögen nicht in derselben einfachen Seele wurzelt wie das Vegetative und das Sinnliche […]. Wenn der Intellekt also einfach ist, wenn er in den Körper eintritt, dann wird er bei seinem Eintritt mit dem Vegetativen und dem Sinnlichen vereint, und so machen sie als vereinte die Seele nicht als eine einfache, sondern als eine zusammengesetzte zu einer.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) II 4, 415a 15-23

    Aristoteles über die Rolle der Objekte für die Erkenntnis der Seelenvermögen
    Es ist nun notwendig, dass jemand, der über diese [Seelenteile] eine Untersuchung anstellen will, von jedem Einzelnen begreift, was es ist, und dann Untersuchungen über das Implizierte und das andere anstellt. Wenn man aber sagen muss, was ein jedes von ihnen ist, so wie, was das Denkvermögen oder das Wahrnehmungsvermögen oder das Nährvermögen ist, muss man noch davor sagen, was das Denken und was das Wahrnehmen ist. Denn die Aktivitäten und die Taten sind gemäß ihrem Gehalt früher als die Vermögen. Wenn das aber so ist und man zudem noch früher als diese [Akte] die Objekte betrachtet haben muss, muss man folglich aus demselben Grund zuerst über diese [Objekte] Bestimmungen treffen, zum Beispiel über Nahrung, das Sinnesobjekt und das Denkobjekt.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, I 4 (p. 33 und 36 Rahman)

    Ibn Sīnā reflektiert die von Aristoteles genannten Bedingungen für die Feststellung von Teilen bzw. unterschiedlichen Vermögen der Seele
    (1) Und unser Ziel ist jetzt, die Vermögen bekanntzumachen, von denen die Akte ausgehen, sowie, ob es für jede Art von Akt ein spezifisches Vermögen geben muss oder ob das nicht so sein muss. […] Wir sagen also erstens: Ein Vermögen, insofern es wesentlich ein Vermögen und primär ist, ist ein Vermögen zu einer gewissen Sache, und es ist unmöglich, dass es Prinzip einer anderen, davon verschiedenen Sache ist. Denn insofern etwas ein Vermögen zu etwas ist, ist es Prinzip davon. […].
    (2) Nun sind die Vermögen, insofern sie Vermögen sind, dem ersten Zweck nach Prinzipien für bestimmte Akte. Aber es ist möglich, dass ein einzelnes Vermögen dem zweiten Zweck nach Prinzip für viele Akte ist, insofern diese wie Zweige sind. […] Zum Beispiel ist der Gesichtssinn primär nur ein Vermögen zur Auffassung einer Qualität, in der sich der Körper befindet […], und dies ist die Farbe. Sodann ist die Farbe weiß und schwarz.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) II 3, 415a 15-23

    Aristoteles erklärt den Zusammenhang der Seelenvermögen mit den verschiedenen Formen des Lebens
    [1] Für jedes Einzelne muss man untersuchen, welches die Seele für ein jedes ist, zum Beispiel welche die der Pflanze und welche die des Menschen oder Tieres ist. […]
    [2] Denn ohne das Nährvermögen gibt es das Wahrnehmungsvermögen nicht. Vom Wahrnehmungsvermögen ist das Nährvermögen in den Pflanzen abgetrennt. Wiederum ist ohne den Tastsinn keiner von den anderen Sinnen vorhanden, das Tasten ist aber ohne die anderen vorhanden. Denn viele Lebewesen haben weder Gesichtssinn noch Gehör noch den Sinn des Geschmacks. Und von den wahrnehmungsfähigen [Wesen] haben einige das Vermögen zur Ortsbewegung, andere hingegen nicht.
    [3] Das letzte und am seltensten ist Nachdenken und Rationalität. Denn bei denjenigen der vergänglichen [Wesen], bei denen das Nachdenken vorhanden ist, ist auch alles Übrige vorhanden, aber nicht bei all denen, bei denen jedes davon vorhanden ist, gibt es das Nachdenken, sondern bei manchen nicht einmal Vorstellungskraft. Andere aber leben nur durch diese. Über den theoretischen Geist gibt es ein anderes Argument. Dass nun also das Argument über jedes von diesem auch das spezifischste über die Seele ist, ist klar [geworden].
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) II 1, 8 (p. 76 Kübel)

    Albertus Magnus erklärt die Mehrdimensionalität des Seelischen in neuplatonischer Weise als eine Einheit von der ersten Ursache her
    [1] Elegant sagte [der jüdische Denker] Isaak [Israeli, ca. 850-932], die rationale Seele sei im Schatten der Intelligenz geschaffen. Er möchte sagen, dass die Intellektseele selbst deswegen eine beschattete Intelligenz ist, weil sie die Seele eines sterblichen Körpers ist. […] Und was die Intelligenz als eine einfache Washeit der Dinge besitzt, das besitzt die Seele durch ihre Neigung zum vorstellbaren Kontinuum und zum Körper, der aus einer beweglichen und veränderlichen Materie besteht.
    [2] So wie aber die Seele des Menschen ein beschattetes Produkt der Intelligenz ist, so ist auch die sinnlich wahrnehmbare [Seele] eine Art kleiner Schatten der rationalen Seele. Und deswegen ist sie noch mehr verdunkelt und verliert die intellektuelle Erkenntnis und die Suche nach den Wahrheiten der Dinge, und sie verliert die Unterscheidung des Hässlichen und in sich Guten […], weil sie kein Vermögen hat, das nicht fest im Fleisch sitzt […]
    [3] Noch mehr versinkt die vegetative [Seele] im Körper, die […] mit Bezug auf die Materie der Dinge in Form von körperlichen Qualitäten tätig ist, so wie beim Verdauen von Speise durch Wärme.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) II 4, 415a 15-23

    Aristoteles beschreibt die Besonderheiten des Nährvermögens und erklärt seine Ansicht über die Ewigkeit der Arten
    [1] Die Nährseele ist nämlich auch bei den anderen [beseelten Wesen] vorhanden, und sie ist das erste und allgemeinste Seelenvermögen, dem gemäß allem das Leben zu kommt.
    [2] Ihre Werke sind das Zeugen und der Gebrauch von Nahrung. Denn es ist das Natürlichste der Werke für das Lebendige, welches vollkommen und nicht eingeschränkt ist oder ein automatisches Hervorbringen besitzt, etwas anderes so wie es selbst hervorzubringen, ein Tier ein Tier, eine Pflanze eine Pflanze, damit sie am Ewigen und Göttlichen Anteil haben, soweit sie es können. Denn danach strebt alles, und deswegen macht es, was es natürlicherweise macht […].
    [3] Weil es also nicht in der Lage ist, durch Kontinuität mit dem Ewigen und Göttlichen Gemeinschaft zu haben, weil nichts Vergängliches ein- und dasselbe der Zahl nach bleiben kann, hat jedes Einzelne damit Gemeinschaft, soweit es daran Anteil haben kann, das Eine mehr, das andere Weniger, und bleibt nicht dasselbe, sondern so wie dasselbe, nicht eines der Zahl nach, aber der Art nach Eines.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, I 5 (p. 40f. Rahman)

    Ibn Sīnā unterscheidet, Aristoteles folgend, drei grundsätzliche Vermögen der vegetativen Seele
    (1) Und die Pflanzenseele hat drei Vermögen. Und das Nährvermögen ist das Vermögen, einen anderen Körper als den Körper, in dem es ist, in eine Ähnlichkeit zu dem Körper, in dem es ist, zu verwandeln, und diesem das anzuhaften, was von jenem ist;
    (2) und das Wachstumsvermögen, das das Vermögen ist, zu dem Körper, in dem es ist, durch einen ähnlichen Körper etwas Passendes zu seiner Ausdehnung hinzuzufügen, in Bezug auf die Länge und die Tiefe und die Breite, so dass er die Vollendung des Wachstums erreicht.
    (3) Und das generative Vermögen empfängt von dem Körper, in dem es ist, einen Teil, der ihm dem Vermögen nach ähnlich ist. Dann macht es mit ihm durch Aufnahme anderer Körper, die ihm ähnlich sind, durch Herstellung von etwas, das es hervorbringt, etwas, das ihm im Akt ähnlich ist.
  • Thomas von Aquin: Summa theologiae I-II (Summa theologiae) I-II 78, 2 resp

    Alberts Schüler Thomas von Aquin (1224/25-1274) betont die besondere Würde des Fortpflanzungsvermögens in der vegetativen Seele
    Es ist […] ein gewisser Unterschied zwischen diesen Vermögen zu beachten. Denn das Nährvermögen und das Wachstumsvermögen haben ihre Wirkung in dem, worin sie sind, weil der mit der Seele vereinte Körper selbst wächst und erhalten wird. […] Aber die generative Kraft hat ihre Wirkung nicht in demselben Körper, sondern in einem anderen, weil nichts sich selbst zeugen kann. Und daher nähert sich die generative Kraft irgendwie der Würde der sinnlichen Seele an, welche eine Tätigkeit in Bezug auf äußere Dinge hat, wenn auch auf herausgehobenere und allgemeinere Weise. Denn das Oberste einer niedrigeren Natur berührt das, was das Niedrigste des Höheren ist, wie durch Dionysios im 7. Kapitel von ,Die göttlichen Namen‘ deutlich ist.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, II 1 (p. 56f. Rahman)

    Ibn Sīnā über die unterschiedliche Wirkung des vegetativen Fortpflanzungsvermögens in verschiedenen Wesen
    [1] Und das pflanzliche Vermögen, das in den Tieren ist, also der Unterschied, den sie in ihrem Sein vom Allgemeinen haben, ist gerade das Nähr- und Wachstumsvermögen, und es ist vermischt mit der Gestalt und den Elementen zu einer Mischung, die für das Lebewesen passt. Denn ihre Mischung spielt nicht die Rolle des Vermögens, das den Pflanzen und Tieren gemeinsam ist, insofern es gemeinsam ist. […] Es gehört nämlich nicht zur Natur der Elemente und gegensätzlichen Körper, dass sie miteinander verbunden sind, sondern zu ihrer Natur gehört eine Neigung nach verschiedenen Seiten hin.
    [2] Und verbunden hat sie nur die spezifische Seele, zum Beispiel in einer Palme eine Palmenseele und bei einer Traube eine Traubenseele und überhaupt die Seele, welche die Form für diese Materie ist. Und wenn es sich um eine Palmenseele handelt, kommt es ihr zusätzlich dazu, eine Palmenseele zu sein, zu, dass sie eine Wachstumsseele ist, und in einer Traube, eine Traubenseele zu sein. Und die Palme braucht nicht eine Pflanzenseele und eine andere Seele, die in dieser Palmenseele wäre. […] Und insofern ist die Pflanzenseele, die in den Tieren ist, also die nach Schöpfung des Tieres, […] in Wirklichkeit keine Pflanzenseele, abgesehen davon, dass man sie eine Pflanzenseele in der Weise nennt, die wir erwähnt haben.
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) II 2, 8 (p. 91f. Kübel)

    Albertus Magnus entwickelt, in der Nachfolge der Ärzte Galen und Avicenna, eine ausführliche Theorie der Funktion des Zeugungsvermögens und erläutert die beiden (männlichen und weiblichen) Säfte, die am Zeugungsakt beteiligt sind
    [1] Die Samenglieder sind das Organ des Zeugungsvermögens, so wie das Gehirn das Organ der Seelenkraft und das Herz das der Lebenskraft ist. Und die Zeugungskraft, die in den Genitalien liegt, drückt in überschüssiger Nahrung eine formative Kraft ein, die, […] wenn sie am erforderlichen Ort ist, den Samen zu einem organischen Körper formt. […] Dieser Same wird nun vom ganzen Körper abgeschieden, aber besonders vom Gehirn, und […] angezogen durch die Kraft der Hoden wird er zu den Samengefäßen gezogen und dort durch die vorher genannte Kraft informiert.
    [2] Und daher ist die Zeugungskraft […] zweifach: eine im Zeugenden, die den Samen durch die Anziehung abscheidet […]. Die andere Zeugungskraft aber ist im Samen, der eine formative Kraft ist, die zwei Werkzeuge, zwei Materien und zwei Werke hat. Eines ihrer Werkzeuge ist die Wärme des Samens, die durch drei Kräfte geformt ist: Eine hat er von der Substanz, insofern sie Wärme ist. […] Die zweite ist eine Himmelskraft, durch welche Kraft er aufgrund des Vermögens des Bewegers des Himmels auf das Leben hinarbeitet. […] Das dritte ist die Kraft der Seele, deren Werkzeug die Wärme selbst ist […].
    [3] Die beiden Feuchtigkeiten aber sind die Materien, in denen [das Zeugungsvermögen] das tut. Und zwar ist eine die, die in der Substanz der Samen ist, und das ist die hauptsächliche. Die andere wird angezogen, um ihr hinzugeführt zu werden, und das ist die Feuchtigkeit des Menstruationsbluts, an dessen Stelle das Kind Nahrung sucht, wenn sie von der Gebärmutter getrennt wird. Und diese Feuchtigkeit ist eine Ergänzung, die zur Feuchtigkeit des Samens hinzugefügt wird, um zur Bildung von Gliedern zu genügen.
  • Albertus Magnus: Über die Tiere (De animalibus) XVI (p. 1098 Stadler)

    Albertus Magnus erklärt die Fortpflanzung vor dem Hintergrund seiner gesamten Naturtheorie als Werk der der Natur innewohnenden Intelligenz
    [1] Der Körper des Spermas ist der, mit dem und in dem aus dem das Sperma ablassende Tier ein Geistwesen ausgeht. Dieses ist die größte Kraft und das Prinzip für die Seele, die in das empfangene Wesen eingeführt wird, nachdem sie von der Möglichkeit in den Akt überführt wurde.
    [2] Und dieses Geistwesen ist vom Körper des Erzeugers getrennt […] und […] ist ein göttliches Ding […], so dass es […] formender praktischer Intellekt genannt wird, so wie die Werkzeuge einer Fertigkeit selbst eine Fertigkeit genannt werden. […] Denn dieser […] ist so, wie wenn die Kraft einer Fertigkeit aus dem Fertiger als ganze in eine Axt eintreten würde, so dass die Axt durch sich selbst in Hölzer und Steine eintreten würde sowie ohne Kontakt und Bewegung durch den Fertiger ein Haus machen würde.
    [3] Denn eine solche Axt wäre nicht unterschieden von der Kraft des praktischen Intellekts […], welcher der Hersteller und Vollender der gesamten Natur wäre […]. Denn auf diese Weise wird das Werk der Natur ein Werk der Intelligenz oder des Intellekts genannt.
  • Albertus Magnus: Frage über die Empfängnis Christi (Quaestio de conceptione Christi) Artikel/articulus 1 (p. 258 und 260 Fries)

    Albertus Magnus diskutiert die Rolle Mariens bei der unbefleckten Empfängnis und Geburt Jesu
    [1] Es wird gefragt, ob die selige Jungfrau [Maria] den Fötus durch aktive Formung oder nur durch Dienst an der Materie des Körpers geboren hat.
    [2] Lösung: […] Die Zeugung Christ stammt effektiv […] in Bezug auf die Formung nur vom Heiligen Geist. Es ist jedoch zu unterscheiden, dass nicht nur die Materie von der seligen Jungfrau her empfangen wird, sondern die spezifische Materie des Körpers Christi mit den Dispositionen. Diese Dispositionen bewegen zur […] Formbarkeit, aber nur als bewegte. Und in der seligen Jungfrau wurden sie vom Heiligen Geist bewegt, in einer anderen Mutter werden sie von der Kraft im Samen des Vaters bewegt.
    [3] Und auf diese Weise ist das, was von der Mutter aufgrund einer ihr innewohnenden Kraft abgeschieden wird, auf den Fötus hin tätig. […] Auf andere Weise […] ist sie durch die Kraft der Gebärmutter auf die Verbesserung hin tätig, weil der Fötus durch die Nabelschnur von der Mutter abhängt. […] Und im Hinblick auf diese Tätigkeiten sagt Avicenna, dass die Gebärmutter auf die Verbesserung des Fötus hin tätig ist. […] Und weil es nicht mehr Tätigkeiten einer wahren Mutter im Hinblick auf den Fötus gibt […], ist klar, dass die selige Jungfrau auf allerwahrste Weise die Mutter Christi war.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) II 12, 424a 18-28

    Aristoteles trifft grundlegende Aussagen über die Sinneswahrnehmung
    [1] Im Allgemeinen muss man über jede Sinneswahrnehmung begreifen, dass die Sinneswahrnehmung etwas ist, was die sinnlichen Formen ohne Materie aufnehmen kann, so wie das Wachs das Zeichen des Siegelrings ohne das Eisen und das Gold aufnimmt. Es nimmt aber das goldene oder eiserne Zeichen auf, aber nicht, insofern es Gold oder Eisen ist. Ähnlich erleidet auch die Sinneswahrnehmung durch das, was eine Farbe oder einen Geschmack oder einen Ton aufweist, aber nicht so, dass gesagt wird, sie sei ein jedes davon, sondern als ein derartiges und gemäß dem Gehalt.
    [2] Das erste Sinnesorgan ist das, worin sich das so geartete Vermögen befindet. Es ist nun dasselbe [wie das Wahrgenommene], aber das Sein ist verschieden. Denn sonst wäre das Wahrnehmende eine Größe. Aber gewiss ist es weder eine Größe, wahrnehmend zu sein, noch ist die Sinneswahrnehmung eine, sondern [sie ist] ein bestimmter Gehalt und ein Vermögen für jenes.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) II 6, 418a 8-22

    Aristoteles erläutert das Verhältnis der jeweiligen Sinne zu ihren Objekten
    [1] Von einem Sinnesobjekt spricht man auf dreierlei Weise, wobei wir sagen, dass wir zwei an sich wahrnehmen, eine aber akzidentell. Von den zweien ist das eine spezifisch für jeden Sinn, das Allgemeine aber für alle. Ich nenne ,spezifisch‘ das, was nicht mit einem anderen Sinn wahrgenommen werden kann […], so wie der Gesichtssinn auf die Farbe gerichtet ist, das Gehör auf den Ton und der Geschmackssinn auf den Geschmack. Das Tasten hat aber mehrere Differenzen.
    [2] Aber jede einzelne urteilt über dieses und täuscht sich nicht darin, dass dies eine Farbe oder ein Ton ist, sondern darin, was das Gefärbte ist und wo es ist, oder was das den Ton Verursachende ist oder wo es ist. Das derartige wird spezifisch für jeden einzelnen [Sinn] genannt. Allgemein sind aber Bewegung, Ruhe, Zahl, Gestalt und Größe. Denn derartiges ist […] allen [Sinnen] gemeinsam. Denn eine Bewegung ist wahrnehmbar für das Tasten und den Gesichtssinn.
    [3] Akzidentell wahrnehmbar wird aber etwas genannt, wie wenn das Weiße der Sohn des Diares ist. Denn diesen nimmt man akzidentell war, weil das Weiße, das man wahrnimmt, akzidentell dieses ist. Deswegen erleidet man [in diesem Fall nichts] unter dem Sinnesobjekt als solchem.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) II 7, 418a 29-b 2

    Auf physikalischer Ebene meint Aristoteles, dass zur Sinneswahrnehmung ein Medium zwischen Organ und wahrgenommenem Objekt erforderlich ist
    [1] Das […] Sichtbare ist Farbe. […] Jede Farbe ist aber geeignet, das […] Durchsichtige zu bewegen. […] Deswegen ist es ohne Licht nicht sichtbar. […].
    [2] Denn nicht richtig […] spricht Demokrit in der Überzeugung, dass dann, wenn das Medium leer wäre, exakt gesehen würde, selbst wenn ein Maulwurf im Himmel wäre. Denn dies ist unmöglich. Denn das Sehen geschieht, wenn das Wahrnehmungsvermögen etwas erleidet. Durch die gesehene Farbe selbst ist nun ist das unmöglich. Es bleibt also, dass es durch das Medium geschieht, so dass es notwendig ist, dass es irgendein Medium gibt. Wenn aber etwas Leeres entsteht, ist es nicht so, dass exakt, sondern dass überhaupt nichts gesehen wird.
  • Johannes Philoponos : Kommentar zu Aristoteles’ „Über die Seele“ (In Aristotelis de Anima libros commentaria) II (p. 289 und 297 Hayduck)

    Johannes Philoponos möchte als Neuplatoniker die seelische Aktivität nicht bloß als Erleiden verstehen und definiert sie daher neu
    [1] Die Sinneswahrnehmung scheint in der Wahrnehmung der Sinnesobjekte verändert zu werden […]. Wenn sie aber verändert wird, erleidet sie auch, denn die Veränderung ist ein Erleiden. […] Aristoteles sagt nicht als seine Ansicht, dass die Sinneswahrnehmung verändert werde und erleide. […] Er wird nämlich zeigen, wenn er darlegt, wie all das über die Seele gesagt wird, dass weder im eigentlichen Sinn gesagt wird, sie verändere sich, noch sie erleide. […]
    [2] Die wahrhaft vollendete Aktivität ist das Hervorbringen des Habitus auf einen Schlag, das nicht zusammen mit der Bewegung der Zeit auftritt, sondern sich für jeden Teil gleich verhält. So ist das Hervorbringen des Lichts. Denn gleichzeitig mit dem Erscheinen des Erleuchtenden wird auf einen Schlag jedes Geeignete erleuchtet. […] Das Erleidende […] wird auch irgendwie bewegt, denn das Erleiden geschieht nicht ohne Bewegung. Das Bewegte aber erleidet dabei überhaupt nicht. Denn gewiss ist auch die Ortsbewegung kein Erleiden. Das Erleiden wird nämlich im Verhältnis zum Tun gesagt, das Tun ist aber eine Veränderung der Qualität nach.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, II 2 (p. 58f. Rahman)

    Ibn Sīnā betrachtet die Sinneswahrnehmung als ein spezifisches Feld der Abstraktion
    (1) Jetzt wollen wir über die Vermögen der Sinneswahrnehmung und des Auffassens sprechen, und wir wollen über das sprechen, was zur allgemeinen Rede darüber gehört. Wir sagen also: Es scheint, dass jedes Auffassen nichts anderes als ein Ergreifen der aufgefassten Form auf eine von mehreren Weisen ist. Wenn sich nun das Auffassen auf eine materielle Sache richtet, so ist es das Ergreifen seiner von der Materie in einer bestimmten Weise losgelösten (muğarradatin = abstractam) Form. Aber es gibt verschiedene Arten der Loslösung (al-tağrīdi = abstractionis), und ihre Stufen sind nicht von gleicher Art.
    (2) Der materiellen Form stoßen nun aufgrund der Materie akzidentell Zustände und Lagen zu, die nicht zu ihrem Wesen gehören. […] Zum Beispiel ist die menschliche Form bzw. die menschliche Washeit eine Natur, die nicht notwendigerweise die Individuen der ganzen Art in gleicher Weise umfasst. Sie ist ja der Zahl nach eine Sache, und es stößt ihr akzidentell zu, dass sie in diesem und jenem Individuum besteht, so dass sie sich vervielfältigt. Und das trifft auf sie nicht von Seiten ihrer Menschennatur zu. […] Folglich ist eines der Akzidenzien der Menschheit von Seiten der Materie genau diese Art der Vervielfältigung durch Teilung.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, III 7 (p. 141f. Rahman)

    Ibn Sīnā erörtert, wie die Abgabe und Aufnahme einer abstrahierten Form bei der Sinneswahrnehmung genügt
    (1) Und wir sagen: In der Seele wird eine Form des Gesehenen aufgenommen, die der Form in diesem ähnelt, aber nicht diese Form selbst ist. Und auch das, was aufgrund von Annäherung wahrgenommen wird, wie das Gerochene und Berührte, erreicht das Wahrnehmende durch diese Form davon. Aber es entsteht in ihm nur etwas dieser Form Ähnliches.
    (2) Von denjenigen der Sachen jedoch, die ein Erleiden hervorrufen, gibt es einen Weg durch Berührung. Und unter ihnen muss etwas, wenn die Berührung entsteht, geschädigt werden, damit eine Spur davon zurückgelassen wird.
    (3) Und dies ist an diesem Ort derjenige Strahl, der zu dessen Verbindung mit der Form des Gesehenen erforderlich ist. So kann dasjenige, was die Form aufweist, ein Abbild seiner Form, das dem in der Ferne Auswerfenden als schwaches Abbild ähnlich ist, zu etwas von ihm Verschiedenem hin auswerfen, wenn das Licht stark wird.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, II 3 (p. 68 Rahman)

    Ibn Sīnā stellt einen Zusammenhang zwischen dem Tastsinn und einer minimalen Bewegungsfähigkeit bei Schalentieren fest
    Und was die Bewegung betrifft, so kann jemand sagen: Nahe ist der Tastsinn den Tieren. Und insoweit er die primäre Art der Sinneswahrnehmung ist, insoweit dürfte scheinen, dass er unter den Bewegungskräften als erste Art vorhanden ist. Nun ist es bekannt, dass es von den Tieren welche gibt, die den Tastsinn besitzen und nicht die Fähigkeit zur Bewegung, so wie die Arten der Muscheln. Aber wir sagen, dass die willentliche Bewegung auf zwei Weisen erfolgt, als von Ort zu Ort transportierende Bewegung und als Bewegung des Zusammenziehens und Ausdehnens der Glieder des Tieres. Und wenn es in ihm überhaupt keinen Transport von seinem Ort gibt, so ist es unmöglich, dass das Tier den Tastsinn hat und die Bewegungskraft in ihm gar nicht vorhanden ist. Denn wie soll man wissen, dass es den Tastsinn hat, außer dadurch, dass an ihm eine Art von Abwendung vom Ertasteten und Streben zum Ertasteten gesehen wird?
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) II 3, 1 (p. 96 Kübel)

    Albertus Magnus betont die passive Natur des Vermögens der Sinneswahrnehmung
    Das Erste aber, was über die Sinneswahrnehmung im Allgemeinen zu betrachten ist, ist, ob sie, da sie zur Gattung der Vermögen gehört, zur Gattung der passiven oder zur Gattung der aktiven Vermögen gehört. Und man muss sagen, dass sie zur Gattung der passiven Vermögen gehört, weil ,Sinneswahrnehmung‘ dem Akt nach ,durch das Bewegtwerden‘ des Organs ,selbst und durch ein Erleiden‘ vom sinnlich wahrgenommenen Objekt besteht, das seine eigenen Form im Sinnesorgan hervorbringt. Denn alles Empfangende ist erleidend. Und weil die Sinneswahrnehmung nicht anders wahrnimmt als, indem sie eine sinnlich wahrnehmbare Form aufnimmt, muss die Sinneswahrnehmung zur Gattung der passiven Vermögen gehören. Denn ,eine bestimmte Veränderung scheint einzutreten‘, wenn die Sinneswahrnehmung die Form dessen aufnimmt, was im Akt sinnlich wahrgenommen wird, obwohl es sich eigentlich nicht um eine Veränderung handelt.
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) II 3, 5 (p. 103 Kübel)

    Albert erläutert Aristoteles’ Lehre von den zwei Typen des Sinnesobjekts an sich (siehe Zitat Nummer 966)
    [1] Wenn wir sagen, ein Sinnesobjekt werde an sich sinnlich wahrgenommen, wollen wir, dass man das versteht, […] was durch die eigene Natur und Wesenheit Ursache für die Veränderung eines Sinnes ist, weil es das ist, was wesentlich vermag, der Sinneswahrnehmung ein Erleiden zuzufügen. Wir haben nämlich gesagt […], dass nicht jedes beliebige Wirkende jedem beliebigen Erleidenden ein Erleiden zufügt. Sondern es muss eine Übereinstimmung in der Natur zwischen dem spezifisch Wirkenden und dem spezifisch Erleidenden geben. Und daher wollen wir sagen, dass das ein wesenhaftes Sinnesobjekt ist, was sein eigenes Wesen oder die Intention seines Wesens in das Sinnesorgan hineinmalt. […]
    [2] Diese aber sind zwei. […] Eines davon ,ist nun spezifisch‘, welches ,einem Sinn‘ so zukommt, dass es nicht einem anderen zukommt. […] ,Ein anderes‘ Wahrgenommenes ist aber, was daher an sich wahrgenommen werden kann, weil seine Intention verbunden mit einem spezifischen Sinnesobjekt in den Sinn eingedrückt werden kann. Und dies ist das unmittelbare Subjekt der wahrgenommenen Form, welches die Größe ist, in der jede sinnliche Qualität wie in einem spezifischen Subjekt liegt.
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) II 3, 6 (p. 104-106 Kübel)

    Albertus Magnus diskutiert, die Ursache hinter der Sinneswahrnehmung
    [1] Jetzt gilt es zu der Frage zurückzukehren […], ob die äußerlichen Sinnesobjekte irgendeinen identischen Beweger haben, der in ihnen bewirkt, dass sie sinnlich wahrnehmbare Intentionen werden, so wie […] der aktive Intellekt […] die intelligiblen Intentionen bewirkt […]. Es gab aber einige der Modernen […], die dies zugestanden haben.
    [2] Wir sagen […], dass es auf keinerlei Weise notwendig ist, dass es eine Ursache für eine Vielheit gibt. […] Das intentionale und geistige Sein ist aber nicht in einem Gehalt in den Sinnesobjekten, weil ein [Sinnesobjekt] viel geistiger ist als das andere. Denn das eine affiziert sowohl das Medium als auch das Organ, indem es gemäß seinem materiellen Sein darauf wirkt, wie etwa bei den Objekten des Tastsinns. […] Und […] geistiger ist das Sein der Farbe im Medium als das des Tons, und wiederum geistiger ist das Sein des Tons im Medium als das des Geruchs. Und deswegen trägt der Wind Farben nicht weg oder bringt sie, macht aber Töne durch Wegtragen durchaus unhörbar. […]
    [3] Und daher sage ich, dass die Form des sinnlich Wahrgenommenen sich durch sich selbst im Medium der Sinneswahrnehmung gemäß ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit erzeugt.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) III 12, 426b 13-427a 5

    Aristoteles erläutert die Funktion des Gemeinsinns
    Weil wir nun sowohl das Weiße als auch das Süße und ein jedes der Sinnesobjekte jeweils im Einzelnen beurteilen, nehmen wir auch mit etwas wahr, dass sie sich unterscheiden; aber notwendigerweise durch Sinneswahrnehmung. Denn es sind Sinnesobjekte. […] Aber beides muss einem Bestimmten offenbar sein – denn in der Weise, wie wenn ich das eine und du das andere erkennen würdest, wären sie offensichtlich voneinander verschieden. Es muss aber dieses Eine sagen, dass sie verschieden sind […]. Dies sagt also ein- und dasselbe [Vermögen]. […] Dass es also nicht möglich ist, Getrenntes mit Getrenntem zu beurteilen, ist klar; dass es auch nicht zu einem getrennten Zeitpunkt geschehen kann, aus Folgendem: […] Zum Beispiel sage ich jetzt, dass es verschieden ist, aber nicht, dass es jetzt verschieden ist. Sondern so sagt man: sowohl jetzt als auch, dass es jetzt [so ist]. Gleichzeitig also. […] Aber gewiss ist es unmöglich, dass dasselbe, insofern es untrennbar ist, gleichzeitig auf gegensätzliche Weisen bewegt wird. […] Es ist nun so, dass es wie etwas Getrenntes getrennte Objekte wahrnimmt, aber auch so, dass es dieses wie etwas Ungetrenntes [tut]. Denn dem Sein nach ist es getrennt, dem Ort und der Zeit nach ungetrennt.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) III 3, 427b 15-25

    Aristoteles beschreibt das Vorstellen (phantasia) und grenzt es vom Meinen ab
    Das Vorstellen […] ist etwas anderes als Sinneswahrnehmung und Denken. Es geschieht nicht ohne Sinneswahrnehmung, und ohne es gibt es kein Vermuten. Dass das Vorstellen nicht dasselbe ist wie das Vermuten, ist klar. Denn dieses Erleiden liegt bei uns, wenn wir wollen (denn es ist möglich, sich etwas vor Augen zu stellen [...]), zu meinen liegt aber nicht bei uns. Denn notwendigerweise ist es richtig oder falsch. Ferner erleiden wir sogleich etwas, sobald wir etwas Schreckliches oder Furchtbares meinen, ähnlich auch bei etwas Mutigem. Beim Vorstellen verhalten wir uns so wie die, die in der Schrift Schreckliches oder Mutiges betrachten.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) III 3, 428a 1-16

    Aristoteles definiert die Grenzen des Vorstellens näher und betont ihre Passivität und Irrtumsanfälligkeit
    [1] Wenn nun das Vorstellen das ist, von dem wir sagen, durch es trete bei uns eine Vorstellung ein […], gibt es ein Vermögen oder einen Habitus, mit dem wir urteilen und richtig oder falsch liegen. Von dieser Art sind Sinneswahrnehmung, Meinen, Wissen, Geist. […] Es wird aber etwas vorgestellt, wenn nichts davon vorhanden ist, zum Beispiel das in den Träumen [Erscheinende].
    [2] Sodann ist die Sinneswahrnehmung immer vorhanden, das Vorstellen nicht. Wenn es aber der Aktivität nach dasselbe ist, müsste bei allen Tieren ein Vorstellen vorhanden sein können. Es scheint aber nicht [so zu sein]: wie bei einer Ameise oder einer Biene, nicht aber bei einem Maulwurf.
    [3] Ferner sind diese [Sinneswahrnehmungen] nun immer wahr, die meisten Vorstellungen sind aber falsch. Sodann sagen wir auch nicht, wenn wir exakt in Bezug auf ein Wahrnehmungsobjekt aktiv sind, dass dieses von uns als ein Mensch vorgestellt wird, sondern eher, wenn wir nicht klar wahrnehmen.
  • Aristoteles: Über die Erinnerung und das Gedächtnis (De memoria et reminiscentia) 1, 449b 22-450a 30

    Aristoteles sieht auch die Erinnerung als eine Leistung des Vorstellens an und verortet sie daher in der sinnlichen Seele
    Wenn man auf die Weise des Erinnerns aktiv ist, sagt man in der Seele Folgendes: "Dieses hörte man früher, nahm es wahr oder dachte es." […] Aber auf das Gegenwärtige richtet sich Sinneswahrnehmung, auf das Zukünftige Erwartung, auf das Geschehene Erinnerung. Deswegen erfolgt jede Erinnerung verbunden mit Zeit. Folglich erinnern sich nur diejenigen Lebewesen, die Zeit wahrnehmen. […] Und [die Erinnerung] an Denkobjekte besteht nicht ohne Vorstellung. […] Folglich muss sie dem Geist akzidentell zukommen, an sich aber dem ersten Wahrnehmungsvermögen. Deswegen ist sie auch bei anderen Lebewesen vorhanden, und nicht nur bei Menschen. […] Denn immer, wenn man mit der Erinnerung aktiv ist […], nimmt man zusätzlich das ,früher‘ wahr. […] Welchem Seelenvermögen die Erinnerung angehört ist klar: dem, welchem auch das Vorstellen [angehört]. Und die Erinnerungsobjekte an sich sind das, wovon es ein Vorstellen gibt, akzidentell aber die, welche nicht ohne ein Vorstellen vorkommen.
  • Stephanos von Alexandria: Kommentar zu De anima III (In De anima III) (p. 495, 22-29 Hayduck)

    Stephanos von Alexandria (um 600) unterscheidet aufgrund einer Reflexion über Aristoteles‘ Aussagen zu Tieren zwei Typen des Vorstellens
    Aber gewiss haben auch die Bienen ein Vorstellen. Denn sie kennen ihre Bienenstöcke und lassen dort ihren Honig zurück. Wenn also die Evidenz lehrt, dass sie ein Vorstellen haben, wie kann Aristoteles sagen, dass sie kein Vorstellen haben? Das ist die Frage. Auf sie antworten wir, dass das Vorstellen auf zwei Weisen vorkommt, das eine als erinnerndes, das andere als lernfähiges, durch das wir lernen. Dieses hat auch der Papagei, denn durch es lernt er die menschlichen Worte. Welches Vorstellen spricht also Aristoteles den genannten Lebewesen ab? Und wir sagen: nicht das erinnernde, sondern das lernfähige.
  • Stephanos von Alexandria: Kommentar zu De anima III (In De anima III) (p. 507, 35-508, 7 und 509, 13-22 Hayduck)

    Ein weiterer Aspekt, den Stephanos einführt, betrifft die Fähigkeit des Vorstellens, aufgefasste Formen zu kombinieren
    [1] Wie nun? Fingiert das Vorstellen nicht manches, was die Sinneswahrnehmung nicht kennt? […]. Folglich fingiert das Vorstellen auch, was die Sinneswahrnehmung nicht kennt und ist ohne Sinneswahrnehmung aktiv. Das ist die Frage. Wir sagen dazu: Auch wenn es fingiert, nimmt es die Ausgangspunkte wieder aus der Sinneswahrnehmung. Denn weil jemand den Bock und den Hirsch je für sich gesehen hat, nahm es diese Ausgangspunkte, die einfach sind, von der Sinneswahrnehmung und fingierte das Zusammengesetzte. Wenn es einen zum Himmel reichenden Menschen fingiert, so sah es doch vorher einen einzelnen Menschen. […]
    [2] Wie kann Aristoteles nun sagen, dass das Vorstellen in Bezug auf die Wahrnehmungsobjekte an sich immer wahr ist, nachdem er gesagt hatte, dass das Vorstellen nicht immer wahr ist […]? Und dies ist die Frage. Dazu ist zu sagen, dass das Vorstellen auf zwei Weisen geschieht, die eine, die nur die Formen aufnimmt und wie etwas Aufnehmendes ist, die andere, die sich ausmalt, was sie will. Die die Formen aufnehmende ist nun immer richtig […]. Die sich ausmalende, was sie will, ist die Falsches Angebende. Denn weil sie sich nicht-Seiendes ausmalt, ist sie falsch.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, Die Seele IV 1 (p. 165f. Rahman)

    Ibn Sīnā ergänzt den Gemeinsinn und die Formen des Vorstellens weiter und fasst sie zur Gruppe der fünf inneren Sinne zusammen
    [1] Nun wissen wir aber in unserer Natur, dass wir Sinnesobjekte nicht gemäß der Form, die wir außen sehen, untereinander kombinieren und voneinander unterscheiden. […] Es ist also nötig, dass es in uns eine Kraft gibt, durch die wir dies tun. Sie wird, wenn der Intellekt sie verwendet, Denkkraft genannt, und, wenn ein tierisches Vermögen sie verwendet, Vorstellungskraft.
    [2] Ferner urteilen wir bisweilen über Sinnesobjekte durch Intentionen, deren Naturen zum Teil gar nicht sinnlich wahrnehmbar sind, […] so wie Feindschaft, Schlechtigkeit und Abneigung, welche das Schaf in der Form des Wolfs wahrnimmt, und überhaupt die Intention, die es vor ihm fliehen lässt, sowie die Eintracht, die es bei seiner Gefährtin wahrnimmt. […] Es handelt sich um Dinge, welche die tierische Seele wahrnimmt, ohne dass die Sinneswahrnehmung auf irgendetwas davon hinweist. Also ist das Vermögen, durch welches dies aufgefasst wird, eine andere Kraft und wird Einschätzungskraft genannt (al-wahm = aestimatio).
  • Ibn Rušd (Averroes): Großer Kommentar zu Aristoteles‘ De anima III 6 (p. 415, 59-61; 416, 75-78 Crawford)

    Eine etwas von Avicenna verschiedene Perspektive führt Ibn Rušd (Averroes; 1126-1198) in seinem Großen Kommentar zu <i>De anima</i> ein
    Das Denkvermögen ist bei Aristoteles eine individuell unterscheidende Kraft, insofern nämlich, als sie etwas nicht anders als individuell unterscheidet, nicht universell. […] Obwohl der Mensch also streng genommen ein Denkvermögen hat, impliziert das nicht, dass diese Kraft eine rationale Unterscheidungskraft ist. Die nämlich unterscheidet universale, keine individuellen Intentionen.
  • Bibel: Jüdisches / Altes Testament: 1 Mose (Genesis) I 1, 6 (8, 76–9, 61 Geyer)

    Albertus Magnus stellt in differenzierter Weise die geistigen Leistungen der Tiere heraus
    [1] "Die Tiere […] werden als Sinneswahrnehmung besitzende" erzeugt. […] "Bei einigen aber […] entsteht" eine Erinnerung an früher aufgenommene Sinnesobjekte. Und weil die Erinnerung nicht nur ein Schatz und eine Aufhäufung sinnlicher Formen […] ist, sondern auch der Intentionen des Angemessenen und Unangemessenen, des Guten und Schlechten, des Freundlichen und Feindlichen und von derartigem […], "sind einige der Tiere klug", die durch die Erinnerung eine Lebensführung haben, "andere aber", die nur an Sinneswahrnehmung stark sind, sind nicht klug.
    [2] Ich nenne die mit Erinnerung begabten [Wesen] nicht gemäß der vollständigen Vernunft der Klugheit klug, die ein aktiver Habitus mit einer wahren Vernunfteinsicht über das ist, was bei uns liegt. […] Sondern […] sie gebrauchen die Erinnerung anstelle von Vernunft […]. Das Zeichen dafür ist, dass sie von entfernten Orten […] zu den eigenen Behausungen und Stöcken zurückkehren.
    [3] Manche Tiere sehen wir am Gehör teilhaben und […] "belehrbarer" sein als die, welche nicht die Fähigkeit haben, sich an derartiges Gehörtes zu erinnern. […] Hier […] nennen wir Lernen eine Erziehung, die durch sinnliche Zeichen geschieht, so wie die Hunde, Affen und Papageien durch Winke und derartiges erzogen werden. […] Mehrere Tiere scheinen in bestimmten leichten freien Fertigkeiten gelehrt zu werden, so wie das Springen und […] Tanzen und derartiges, aber wenige in den mechanischen Fertigkeiten. Denn ein Affe ahmt manchmal manches Mechanische aufgrund seines Zugangs zur Ähnlichkeit mit dem Menschen nach.
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) II 4, 7 (157, 86–100 Stroick)

    Albertus Magnus betont die Leistung, die das Vorstellen namentlich in Verbindung mit dem Erinnern vollbringt
    Dieses Vorstellen […] ist eine größere Kraft, als die sinnliche Seele sie hat. Und es ist das Äußerste der sinnlichen Kraft und wird von der Masse unter den Menschen Denkvermögen genannt, obwohl das Denken eigentlich der Vernunft angehört. Dieses Vorstellen trägt aber sehr viel bei zur Erinnerung an das, was vergessen wurde, indem es die Intentionen zu den Formen und die Formen zur Intention hin bewegt. Denn dadurch entsteht eine Ähnlichkeit zu etwas, was vorher gewusst, und dadurch wird es vergessen. […] Diese ist auch die, welche das Geistige dem Körperlichen angleicht. Denn die geistigen Einteilungen von einem in Vieles gleicht es der Einteilung eines Baums in viele Zweige an, so wie es vorkommt, wenn wir den Baum des Porphyrios erstellen.
  • Thomas von Aquin: Summa theologiae I (Summa theologiae) 78, 4, s.c. and resp

    Thomas von Aquin listet die fünf inneren Sinne nach Avicenna auf, nimmt jedoch eine Umstellung vor
    [1] Avicenna erläutert in seinem Buch „Über die Seele“ fünf innere Sinnesvermögen, nämlich den Gemeinsinn, die Phantasia, die Vorstellungskraft, die Einschätzungskraft und die Erinnerungskraft. […]
    [2] Die, die in anderen Lebewesen natürliche Einschätzungskraft genannt wird, wird beim Menschen [jedoch] Denkvermögen genannt. […] Sie wird auch partikuläre Vernunft genannt.
  • Thomas von Aquin: Kommentar zu Aristoteles’ Metaphysik (Sententia libri Metaphysicorum) I 1. § 16 und 18f

    Thomas von Aquin entwickelt auf der Grundlage der Theorie der inneren Sinne eine Theorie erfahrungsgestützten Handelns
    So wie sich die Erfahrung zur partikulären Vernunft verhält […], so die Fertigkeit zur universalen Vernunft. […] So nämlich wie aus verschiedenen Erinnerungen ein Erfahrungswissen entsteht, ebenso entsteht aus verschiedenen aufgefassten Erfahrungen eine allgemeine Annahme bezüglich ähnlicher Fälle. […] Weil ein Mensch, der dank seiner Erkenntnis erfahren hat, dass diese Arznei Sokrates und Platon, die an einer bestimmten Erkrankung leiden, und in vielen ähnlichen Fällen hilft, so gehört dies, worum immer es sich handelt, zur Erfahrung. Wenn dagegen jemand erfährt, dass etwas allen an einer bestimmten Krankheit Leidenden und in einer Verfassung Befindlichen hilft […], gehört dies schon zur Fertigkeit.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) III 4, 429a 15-21

    Allgemeine Merkmale des Geistes (<i>νοῦς/nūs</i>) nach Aristoteles
    Also muss er [= der Geist] leidensunfähig sein und doch aufnahmefähig für die Form und in Möglichkeit derartig sein, aber nicht dieses, und ähnlich wie sich das Wahrnehmungsvermögen zum Wahrnehmbaren verhält, muss sich der Geist zum Denkbaren verhalten. Folglich muss er, weil er alles denkt, unvermischt sein, wie Anaxagoras sagt, damit er herrscht, d.h. damit er erkennt; denn das andersartige, das mit erscheint, hindert und versperrt.
  • Aristoteles: Über die Seele (De anima) III 5, 430a 10-15

    Aristoteles unterscheidet zwischen einem aktiven und einem passiven Element innerhalb des Geistes
    Da es aber wie in der ganzen Natur einerseits Materie gibt für jede Gattung – sie ist das, was alles Dazugehörige in Möglichkeit ist – andererseits das Ursächliche und Machende – dadurch, dass es alles macht, so wie sich das Handwerk zu seiner Materie verhält – müssen auch in der Seele diese Unterschiede vorliegen, und es gibt einen Geist von der Art, dass er alles wird, und einen von derjenigen, dass er alles macht [...] wie das Licht.
  • Aristoteles: Metaphysik (Metaphysica) XII 6f., 1071b 13-21 und 1072a 26-30. b 3-5

    Aristoteles erklärt in der Metaphysik, dass die erste (Ziel-)Ursache, der unbewegte Beweger, ein sich selbst denkender Geist sein muss, zu dem alles andere hinstrebt
    [1] Also würde es nichts nützen, wenn wir ewige Substanzen annehmen wollten, wie die Anhänger der Ideenlehre, sofern nicht in ihnen ein Prinzip erhalten wäre, welches das Vermögen der Veränderung hat. Aber auch dieses würde nicht genügen, noch eine andere Substanz neben den Ideen; denn sofern die Substanz nicht in Wirklichkeit sich befände, so würde keine Bewegung stattfinden. Ja, wenn sie selbst in Wirklichkeit sich befände, ihre Substanz aber Möglichkeit wäre. Denn auch dann würde keine ewige Bewegung stattfinden; denn was in Möglichkeit ist, kann auch nicht sein. Also muss ein solches Prinzip vorausgesetzt werden, dessen Substanz Wirklichkeit ist. Ferner müssen diese Substanzen ohne Stoff sein; denn sie müssen ewig sein. […]
    [2] Auf solche Weise bewegt das Objekt des Strebens und das des Denkens [...]. Das Ursprüngliche dieser beiden Tätigkeiten ist dasselbe. Denn das Begehrte ist das anscheinend Schöne, das primär Gewollte ist das, was schön ist. Wir erstreben aber etwas, weil etwas scheint, anstatt dass etwas deswegen scheint, weil wir es erstreben. Denn das Prinzip ist das Denken. Der Geist wird aber vom Gedachten bewegt. [...] Er bewegt aber als etwas Geliebtes, durch das Bewegte bewegt er das andere.
  • Philon von Alexandrien: Die Herstellung der Welt Mose zufolge (De opificio mundi secundum Moysem) 16, 20f

    Laut Philon von Alexandrien richtet sich Gott bei der Schöpfung nach einem ewigen Urbild
    [1] Da Gott nämlich, weil er Gott ist, von vornherein erkannte, dass ein schönes Abbild niemals ohne ein schönes Vorbild entstehen kann und dass keines von den sinnlich wahrnehmbaren Dingen tadellos sein würde, das nicht einem Urbild und einer geistigen Idee nachgebildet wäre, bildete er, als er diese sichtbare Welt schaffen wollte, vorher die geistige, um dann mit Benutzung eines unkörperlichen und gottähnlichen Vorbildes die körperliche herzustellen [...], die ebenso viele sinnlich wahrnehmbare Arten enthalten sollte, wie in jener gedacht vorhanden waren. [...] Gleichwie nun die in einem Baumeister zuvor entworfene Stadt nicht außerhalb einen Platz hatte, sondern nur der Seele des Handwerkers eingeprägt war, ebenso hat auch die aus den Ideen bestehende Welt keinen andern Ort als den göttlichen Logos, der alles geordnet hat.
    [2] Eine Kraft [von ihm] ist auch die weltschöpferische, die als Quelle das wahrhaft Gute hat. Denn wenn jemand die Ursache erforschen will, warum eigentlich dieses All geschaffen wurde, so scheint mir das Ziel nicht zu verfehlen, wer sagt – wie es auch schon einer der Alten getan hat –, dass der Vater und Schöpfer gut ist. Deshalb hat er seine vollkommene Natur nicht dem Sein vorenthalten, das aus sich selbst nichts Schönes ist, aber alles werden kann.
  • Alexander von Aphrodisias: Über die Ursachen des Universums nach der Meinung des Aristoteles (De principiis universi secundum Aristotelem) § 25-29

    Alexander von Aphrodisias über den ersten bewegten Körper und seine Bewegungsursache, den unkörperlichen ersten Beweger
    [1] Die Ursache für die Bewegung des göttlichen Körpers kann nur sein Streben zu der Sache sein, die der Gipfel alles Guten ist [...]. Und das liegt daran, dass der göttliche Körper, der von ihm bewegt wird, der edelste aller Körper ist, da er ein einfacher Körper frei von allem Erleiden ist [...]. Dabei ist es nur für diese allein von allen Bewegungen möglich, dass sie kontinuierlich ewig ist, und auf diese Art kann von den Bewegungen [...] nur die kreisförmige Bewegung sein. [...]
    [2] Und wenn jemand sagt, diese Ursache [für die Bewegung des göttlichen Körpers] sei ein Körper, dann geht die Reihe der göttlichen Körper bis ins Unendliche fort. So bleibt nur übrig, dass die Sache, zu der der göttliche Körper strebt, eine Substanz ist, die kein Körper und unbewegt ist [...].
    [3] Der erste Beweger ist unbewegt, weil das, was bewegt und bewegt wird, aus dem Bewegenden und dem Bewegten zusammengesetzt ist. [...]
  • Alexander von Aphrodisias: Über die Ursachen des Universums nach der Meinung des Aristoteles (De principiis universi secundum Aristotelem) § 97-98

    Alexander stellt, im Anschluss an Aristoteles, das Selbstdenken als Selbstbewegung und geliebte, d.h. als Ziel bewegende, Bewegungsursache dar
    (1) Der erste Beweger [...] bewegt die bewegte Sache zu sich, insofern er im Geist (ʿaql = νοῦς) erfasst wird, so wie das Geliebte den Liebenden bewegt. [...] Dasjenige, das wesentlich geliebt ist, bewegt sich selbst, und dasjenige, das wesentlich geliebt ist, ist dasjenige, was gut ist; [...] ferner ist es notwendig, dass es sich selbst bewegt, wenn es sich selbst denken (ya‘qul ḏātahā = νοεῖ ἑαυτόν) kann und sich kennt.
    (2) Und dieses Bewegende ist nicht nur die Ursache für die Bewegung des göttlichen Körpers [...], sondern auch die Ursache für den Menschen in der irdischen Wohnstatt und das höchste Glücklichsein (sa‘āda = εὐδαιμονία).
  • Plotin: Enneade N.N

    Das System der Wirklichkeit nach Plotin
  • Plotin: Enneade V 1, 3, 1f. 12-21

    Der Übergang der Seele zum Geist
    [1] Nimm nun das Göttlichere als dieses Göttliche, den Nachbarn der Seele nach oben hin, nach dem und aus dem die Seele ist. Denn wenngleich sie eine solche Sache ist, wie das Argument zeigte, ist sie ein Abbild des Geistes. [...]
    [2] Da sie aus dem Geist ist, ist sie denkend, und in den Überlegungen ist ihr Geist, und die Vollendung kommt wiederum aus ihm wie von einem Vater, der den aufzieht, den er weniger vollkommen als sich selbst gezeugt hat. [...] Denn wenn die Seele in den Geist hineinblickt, hat sie in sich und ihr zu eigen das, was sie denkt und aktiv betreibt.
    [3] Und nur dasjenige darf man Aktivitäten der Seele nennen, was sie denkend und was sie von sich aus betreibt. Das Schlechtere aber ist von anderswoher und für eine so beschaffene Seele ein Erleiden. Der Geist also macht sie göttlicher, indem er Vater ist und indem er bei ihr ist.
  • Plotin: Enneade V 3 [49], 5, 28-39

    Plotin erklärt die Möglichkeit von Selbsterkenntnis des Denkens
    Und wenn so das Denken und das Gedachte Eines sind, wie kann denn dadurch das Denkende sich selbst denken? [...] Wenn das Denkende und das Gedachte selbig sind – eine Aktivität nämlich ist das Gedachte [...] dann ist das Gedachte das erste Sein. Wenn dieses nun Aktivität, die erste und schönste Aktivität ist, dann ist es doch offensichtlich Denken, und zwar seinshaftes Denken; es ist nämlich das Wahrste; Denken dieser Art, das erste und ursprünglich seiend, ist dann wohl der erste Geist.
  • Augustinus von Hippo: Die Dreieinigkeit (De trinitate ) X 19

    Augustinus erklärt den menschlichen Geist als eine Einheit der drei Vermögen Erinnerung, Erkennen und Wollen
    Wir haben also den Geist in der Erinnerung, dem Erkennen und dem Wollen seiner selbst als einen solchen festgestellt, dass von ihm deswegen, weil er als dauerndes Wissen seiner selbst und dauerndes Wollen seiner selbst begriffen wurde, gleichzeitig ebenfalls begriffen wurde, dass er sich an sich selbst dauernd erinnert und sich selbst dauernd erkennt und liebt, obwohl er sich nicht dauernd unterschieden von dem denkt, das nicht das ist, was er selbst ist.
  • Stephanos von Alexandria: Kommentar zu De anima III (In De anima III) (p. 535, 2-16 Hayduck)

    Stephanos von Alexandrien [Pseudo-Philoponos] fasst am Ende der Antike verschiedene Möglichkeiten der Deutung des von Aristoteles in „Über die Seele“ III 5 gemeinten Geistes zusammen
    Die Ausleger [von De anima] begaben sich auf viele und unterschiedliche Wege. […]
    [1] Alexander [von Aphrodisias] nannte die eine Ursache von allem oder den Geist von außen Geist in Aktivität.
    [2] [Proklos’ Schüler] Marinos aber sagte, nicht die eine Ursache von allem sei der Geist in Aktivität, sondern ein daimonischer oder engelhafter. […]
    [3] Plotin aber erkannte, dass der menschliche Geist der Geist in Aktivität ist, einerseits als ewig denkender, andererseits als manchmal denkender. Plotin wird aber von Platon getäuscht, denn als er von jenem erfuhr, dass die Seele immer bewegt ist, glaubte er, Platon sage dies aufgrund des Ewig-Denkens.
    [4] Plutarch [von Athen; gest. 432] glaubt, wie auch wir meinen, nicht, dass es bei uns einen zweifachen Geist gibt, sondern einen einfachen, und diesen einfachen nennt er nicht einen ewig denkenden, sondern einen manchmal denkenden. Plutarch glaubt also, Aristoteles nenne den menschlichen Geist [Geist] in Aktivität, von dem er auch glaubt, er denke manchmal.
  • Priskian aus Lydien [Pseudo-Simplikios]: In De anima/Kommentar zu Aristoteles’ De anima III 4 (p. 217, 29-218, 2; 218, 42-219, 11 und 219, 36-220, 5 Hayduck)

    Priskian von Lydien (Ps.-Simplikios) erklärt die Einheit, Mannigfaltigkeit und Erschütterbarkeit der Seele
    [1] Denn es gibt für jede rationale Seele einen einzelnen und eigenen Geist, an dem sie Teil hat. Durch ihn wird jede Seele bestimmt, nachdem sie in das Bestimmte […] herabgestiegen ist. […] Die Seele ist aber nicht frei von Teilen, wie ihre entfaltete Aktivität deutlich macht, die zugleich in Trennung und in Zusammenfassung hervorgeht. Wenn sie […] herabgestiegen ist, dann hat sie Teil an […] der Bestimmung und der Form, und zwar jede einzelne an ihrer eigenen Form. Denn es existiert ja auch bei den Komposita eine individuierte Form […], die als ganze kommt und geht sowie im gesamten Leben des Kompositums dasselbe bleibt, auch wenn die verschiedenen Teile zu verschiedenen Zeiten entstehen und vergehen. […]
    [2] Zunächst ist also die Vernunft der Seele doppelt, die eine ist abgetrennt [vom Körper] und aus sich heraus voll von den eigenen Erkenntnisgegenständen. Durch sie findet die Rückwendung der Seele zu sich selbst und die Verbindung mit den höheren Dingen statt. Die andere [Vernunft der Seele] ist die, durch die die Seele sich als ganze zu den sekundären Dingen ausdehnt, indem sie aus dem Verharren in sich selbst heraustritt. Dabei entfernt sie sich entweder […] vollständig […] oder sie ist […] vollendet. […] Denn sie hat in den auf ihr Sein bezüglichen Dispositionen die Erkenntnisgegenstände aufgenommen, die von den seinsmäßigen hervorgehen, so wie es beim Wissenden der Fall ist. […]
    [3] Aber die primäre Seele geht nicht so ins Äußere hervor, dass sie nicht auch in sich selbst bliebe. […] Es ist also eine Vernunft, die zuerst unberührt bleibt und dann durch das Hervorbringen […] aus sich selbst in das Äußere ihre Unveränderlichkeit lockert. […] Denn im Hervorbringen entfernt sie sich in gewisser Weise von sich selbst, und weder bleibt sie vollständig in sich selbst, noch ist sie unberührt das, was sie ist, da sie in gewisser Weise auch in Bezug auf ihr Sein aufgebrochen wird – nicht so, als würde sie ganz zerstört werden, und auch nicht, als würde sie nicht auch irgendwie unverändert bleiben, wenn sie nach außen geht, sondern auf eine Weise, die der Mittelstellung der Seele angemessen ist.
  • Priskian aus Lydien [Pseudo-Simplikios]: In De anima/Kommentar zu Aristoteles’ De anima III 7 (p. 272, 36-273, 9; 225, 22-27 Hayduck)

    Priskian erklärt die Funktion des praktischen Geistes und die Bedeutung des Vorstellens dafür
    [1] Jetzt geht er [= Aristoteles] zum praktischen Geist über, […] wobei er fordert, dass dieser Geist die Objekte des Verfolgens und Vermeidens manchmal anhand der gegenwärtigen Wahrnehmungsobjekte selbst bestimmt, wenn er […] überlegt, […] was man tun muss. Aber meistens trifft es zu, dass der praktische Geist nachdenkt und überlegt, während er in den Vorstellungen die Abdrücke der Wahrnehmungsobjekte sieht. Denn auch wenn einmal die Wahrnehmungsobjekte gegenwärtig sind, weckt die denkende Seele das Nachdenken über die Handlungen, indem sie sich zu sich selbst zurückwendet […] und gebraucht diese als vorhandene Teile des Schlusses […].
    [2] Also sind auch dieses Wahre und Falsche im praktischen Denken, das auch dann nicht ohne Vorstellungskraft aktiv ist, weil für es auch allgemeine Betrachtungen von der Art sind, wie allgemeine Betrachtungen über Einzelnes, z. B. wenn es sagt, dass jede Stadt von guten Gesetzen regiert oder dass jeder Mann ordentlich sein soll oder etwas in der Art. Denn wenn jemand die Objekte des Denkens als Objekte des Denkens betrachtet, dann wird er nicht auf Allgemeines aus dem Bereich der Objekte der Wahrnehmung zurückgreifen.
  • Priskian aus Lydien [Pseudo-Simplikios]: In De anima/Kommentar zu Aristoteles’ De anima III 7 (p. 268, 29-31; 269, 3-13 Hayduck)

    Priskian erläutert, ausgehend von Aristoteles’ Aussagen zum Gemeinsinn, die neuplatonische Deutung der Einheit des denkenden Subjekts
    Das Thema der vorliegenden Aussagen [des Aristoteles] ist […], uns von der Sinneswahrnehmung, wie von etwas Bekannterem, hinaufzuführen zu einem bestimmten Denken der Seele, das allgemein das irgendwie Gedachte unterscheidet. […] Es fasst auch alle Handlungen zusammen und erkennt sie, und zwar nicht nur die Gegensätze wie gut und schlecht in Liebesdingen oder bei der Ernährung, sondern auch beim Besitz, bei Furchtbarem und Schrecklichem und in ähnlicher Weise bei allem. Denn das Denkende sagt ja und erklärt: "Ich lebe maßvoll, gerecht, tapfer oder frei", und es kennt den Unterschied zwischen den Lebensweisen, die es sagt, und auch ihre Gemeinschaft miteinander, da es ihr Denken in etwas Ungeteiltem und Untrennbarem vollzieht. Gewiss gibt es auch etwas noch allgemeineres Denkendes in der Seele, das zugleich die praktischen und die theoretischen Gedanken zusammenfasst, und dieses wird auch die Unterschiedenheit und Gemeinsamkeit der praktischen und theoretischen Objekte untereinander, da es wiederum eines, dasselbe und ungeteilt ist und eine Mannigfaltigkeit ungeteilt auffasst.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, V 6 (p. 239 und 243f. Rahman)

    Ibn Sīnā beschreibt die Struktur und den Status des menschlichen Intellekts in neuplatonischer Weise
    (1) Wir sagen nun: Die Seele denkt, indem sie in sich selbst die von der Materie losgelöste Form des Gedachten auffasst. Und das Sein der losgelösten Form besteht entweder dadurch, dass der Intellekt sie loslöst; oder weil diese Form in sich selbst losgelöst von der Materie ist. […] Und die Seele erfasst formend ihr Wesen, indem sie es zum Intellekt, zum Denkenden und zum Gedachten macht. Und im Hinblick darauf, dass sie diese Formen formt, so macht sie sie nicht so. Sie ist ja in ihrer Substanz ewig im Körper ein Intellekt der Möglichkeit nach, auch wenn sie in bestimmten Gegenständen zum Akt übergeht. […]
    (2) Und das Auffassen davon ist das denkende Wissen, indem nur eine Vollendung zustande kommt, wenn [die Objekte] zusammengesetzt und geordnet werden. Und die zweite [Stufe] ist das einfache Wissen, dem es nicht zukommt, dass es in der Seele eine Form dafür gibt. Vielmehr ist es eines, von dem die Formen in das für die Formen Empfängliche ausgehen. Und dies ist das schöpferische Wissen für das, was wir denkendes Wissen nennen, und dessen Prinzip. Und dieses liegt in dem Intellektvermögen, das abgelöst von der Seele und den schöpferischen Intellekten ähnlich ist. […]
    (3) Und wisse, dass es in dem von diesem beiden reinen Intellekt keinerlei Vielheit gibt und keine Ordnung von Form zu Form. Sondern er ist das Prinzip für jede Form, die von ihm zur Seele hin ausströmt. Und Du musst glauben, dass so das Sein des rein Abgetrennten ist […]. Und unser Intellekt ist der schöpferische Intellekt für die ihm zukommenden Formen, nicht der der die Formen produziert.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, Metaphysik VIII 7 § 3. 6 (p. 363. 365 Cairensis)

    Avicenna über die Struktur der ersten Ursache als Intellekt
    (1) Und es [das erste Prinzip] liebt sein Wesen, das das Prinzip (mabdaʾ) jeder Ordnung ist und gut ist, insofern es so ist. Dabei wird die Ordnung des Guten (niżām al-ḫair) von ihm akzidentell mitgeliebt. Aber das erste Prinzip wird hierzu nicht von der Liebe bewegt, ja es erfährt von ihr überhaupt keine Wirkung, und es ersehnt und erstrebt nichts. Das ist sein Wille (īrāda), der frei ist vom Mangel, den die Liebe bewirkt, und von der Störung durch das Streben zu einem Ziel hin [...].
    (2) Zu der Menge der Verstandesgegenstände (al-maʿqūlāt) gehört derjenige Verstandesgegenstand, dessen Prinzip das Erste unmittelbar ist. Aber seine Existenz fließt (yafīḍu) primär aus ihm. Und der Verstandesgegenstand, dessen Prinzip das Erste mittelbar ist, dies fließt sekundär aus ihm [...]. Einiges von diesem geht jedoch dem anderen voraus in der Rangfolge des Verursachenden und des Verursachten.
  • Ibn Rušd (Averroes): Großer Kommentar zu Aristoteles‘ De anima III, Abschnitt 5

    Averroes über die notwendige Universalität des Intellekts
    [1] Da nun dies die Definition des materialen Intellekts ist, ist offensichtlich, dass er sich Aristoteles zufolge darin von der ersten Materie unterscheidet, dass er potentiell alle Intentionen der universellen materiellen Formen ist, während die erste Materie potentiell alle konkreten wahrnehmbaren Formen ist, die sie nicht erkennt und nicht erfasst.
    [2] Der Grund, aus dem diese Natur unterscheidet und erkennt, die erste Materie dagegen weder erkennt noch unterscheidet, ist der, dass die erste Materie unterschiedliche Formen aufnimmt, nämlich individuelle und konkrete, jene dagegen universale aufnimmt. Und daher wird klar, dass diese Natur [des Intellekts] nichts Konkretes ist, weder ein Körper noch ein Vermögen in einem Körper, denn wenn es so wäre, würde sie die Formen aufnehmen, insofern sie geteilt und konkret sind. Und wenn das der Fall wäre, dann wären die Formen, die in ihr existieren, [nur] potentielle Denkobjekte.
  • Ibn Rušd (Averroes): Großer Kommentar zu Aristoteles‘ De anima III, Abschnitt 5, S. 411f

    Averroes über den Vorteil der Theorie der Universalität des Intellekts
    [1] Wenn das gedachte Objekt bei mir und bei dir in jeder Hinsicht eines wäre, ergäbe sich folgende Konsequenz: Wenn ich irgendein Denkobjekt wüsste, dann wüsstest du es auch – und viele andere Unmöglichkeiten. Wenn wir aber annähmen, es sei vieles, dann wäre die Konsequenz, dass das gedachte Objekt bei mir und bei dir der Art nach eine, dem Individuum nach aber zwei wäre. So hätte das gedachte Objekt ein [weiteres] gedachtes Objekt, und so ginge es fort bis ins Unendliche. Es wäre dann unmöglich, dass ein Schüler vom Lehrer lernt, es sei denn, das Wissen, das im Lehrer ist, sei ein Vermögen, welches das Wissen, das im Schüler ist, erzeugt und erschafft – auf die Weise wie das konkrete Feuer ein anderes ihm der Art nach ähnliches Feuer erzeugt – was unmöglich ist. [...]
    [2] Wenn wir daher annehmen, das gedachte Objekt, das bei mir und bei dir ist, sei vieles in dem Subjekt, dem gemäß es wahr ist, nämlich als vorgestellte Formen, und eines in dem Subjekt, durch das es Intellekt ist (und das ist der materielle), werden diese Fragen vollkommen gelöst.
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) III 2, 12 (192, 78–82 und 194, 13-25 Stroick)

    Albertus Magnus entscheidet sich in dieser Situation für die Lösung Ibn Sīnās
    [1] Nachdem all dies festgehalten wurde, scheint man mit den Peripatetikern sagen zu müssen, dass der mögliche Intellekt unvermischt, abgetrennt und leidensunfähig ist. […] Aber damit klarer wird, wie dies so ist, wollen wir Avicennas Worten folgen, die mehr mit Aristoteles übereinstimmen. […]
    [2] So wird nun gesagt, der mögliche Intellekt sei abgetrennt. Unvermischt aber wird er genannt, weil er nicht mit dem Körper so wie die Form eines Körpers vermischt ist, oder so wie eine organische Kraft, die in einem Organ des Körpers tätig ist. […] Der Intellekt ist eine Kraft von etwas wahrhaft Vorhandenem, welches die rationale Seele ist, die, obgleich sie nicht auf die beiden genannten Weisen mit dem Körper verbunden ist, doch Kräfte besitzt, die mit dem Körper vermischt sind.
    [3] Aber der Intellekt ist nicht insofern eine Kraft von ihr, als sie mit dem Körper vermischt ist, sondern eher, insofern er ein Abbild des ersten wirkenden und eine solche Seele hervorbringenden Intellekts ist. Und daher ist es unmöglich, dass der Intellekt mit dem Körper vermischt ist, und daher kann er auch nicht durch ein körperliches Werkzeug wirken.
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) III 3, 2 (210, 56-69 Stroick)

    Albertus Magnus über die Wahrheit und Fehleranfälligkeit des Intellekts
    [1] Der Intellekt, der nichts umfasst als eine einfache Auffassung des Geistes, ist immer wahr. Aber als zusammensetzender ist er nicht immer wahr, weil dies dem Intellekt so zukommt wie der Sinneswahrnehmung das akzidentelle Sinnesobjekt. Und daher ist der Intellekt hierin immer anfällig für Fehler. "Alles" aber, "was ohne Materie besteht" so wie die abgetrennten Substanzen, erkennen die Dinge durch die einfachen Washeiten der Dinge. Und deswegen ist ihr Intellekt nicht anfällig für Fehler.
    [2] Denn wann immer begriffen wird, dass eines einem anderen wirklich innewohnt, muss dies durch dein Begreifen der Dinge sowie durch ihre Unterschliedlichkeit und Übereinstimmung im Einzelnen geschehen. Und dies kommt dem Intellekt akzidentell durch seine Ausdehnung auf die sinnlichen Vermögen zu, und in einer derartigen Zusammensetzung und Trennung tritt häufig ein Irrtum auf.
  • Siger von Brabant: Fragen zum dritten Buch von Aristoteles’ De anima (Quaestiones in tertium De anima) Frage Nr. 8

    Siger von Brabant (ca. 1240-1284) vertritt die averroistische These, dass alle Menschen nur einen Intellekt haben
    Beachte aber am Beginn der Antwort, dass es dann, wenn der Intellekt durch seine Substanz die Vollendung des Körpers wäre, gar keine Frage wäre, ob die Intellekte sich entsprechend der Menge der verschiedenen Menschen vermehren. Vielmehr ist klar, dass es so ist. Wenn Du also sagst, dass der Intellekt sich wegen der Materien vermehrt, denen er sich anpasst, dann soll gefragt werden, was die Ursache der Anpassung ist. Anscheinend kann es keine andere Erklärung geben als anzunehmen, dass der Intellekt eine Kraft im Körper ist. [...] Und deswegen argumentiert Averroes, [...] dass der Intellekt einer ist, nicht vermehrt gemäß der Vielzahl der individuellen Menschen, weil er so eine Kraft im Körper der verschiedenen Menschen wäre.
  • Thomas von Aquin: Die Einheit des Intellekts gegen die Averroisten (De unitate intellectus contra Averroistas) Vorrede und Kap. III, nr. 174, 216, 232

    Thomas von Aquin argumentiert gegen die These von der Einheit des Intellekts
    [1] Wir beabsichtigen aber zu zeigen, dass die genannte Position nicht weniger gegen die Prinzipien der Philosophie ist als gegen die Zeugnisse des Glaubens. [...]
    [2] Denn es ist klar, dass dieser einzelne Mensch denkt: Wir würden nämlich niemals über den Intellekt fragen, wenn wir nicht denken würden. Noch stellen wir, wenn wir über den Intellekt fragen, Fragen zu einem anderen Prinzip als dem, womit wir denken. [...]
    [3] Wenn also der Intellekt nichts ist, was zu dem einzelnen Menschen gehört, so dass er mit diesem wahrhaft eines ist, [...] wird es in diesem Menschen keinen Willen geben, sondern in einem separaten Intellekt. Und so wird dieser Mensch nicht Herr seines Handelns sein, und kein Akt von ihm wird lobenswert oder tadelnswert sein – und das heißt, die Prinzipien der Moralphilosophie einzureißen.
  • Siger von Brabant: Fragen zum dritten Buch von Aristoteles’ De anima (Quaestiones in tertium De anima) S. 242f

    Ein anonymer Averroist zu Thomas von Aquins Behauptung, jeder einzelne Mensch denke
    Indem etwas Unakzeptables benannt und dieses dort nicht bewiesen wird, indem es anderswo vorausgesetzt, bekannt und zugestanden wird, ist es leicht, viel Unakzeptables zu folgern. Diese aber nehmen an, dass der Mensch eigentümlich denkt, beweisen dies aber nicht. Von dieser Voraussetzung her argumentieren sie. Aber wenn dieses Vorausgesetzte nicht wahr ist, argumentieren sie nicht. Dass der Mensch daher in eigentümlicher Rede denkt, gestehe ich nicht zu. Wenn dies jedoch zugestanden ist, dann weiß ich nicht zu antworten. Aber dies bestreite ich, und zu Recht, daher werde ich leicht antworten.
  • Aristoteles: Nikomachische Ethik (Ethica Nicomachea) VII 4, 1147a 25-b 1

    Aristoteles über die Ursachen der Willensschwäche
    [1] Die eine Meinung [, die jemand in Bezug auf seine Handlung hat,] bezieht sich nun auf Allgemeines, die andere auf Einzelnes, welches von der Sinneswahrnehmung bestimmt wird. Wenn aber aus diesen [Meinungen] eine entsteht, dann muss die Seele diese Folgerung notwendigerweise hier [im Bereich des Meinens] behaupten, im Bereich des Handelns aber sofort tun. Wenn man z.B. ,alles Süße kosten soll‘, ,dies hier aber‘ als eines von den Einzeldingen ,süß ist‘, dann muss der, der dies kann und nicht gehindert wird, dies zugleich auch tun.
    [2] Wenn also ein allgemeiner Satz gegeben ist, der am Kosten hindert, zugleich aber derjenige ,alles Süße ist freudvoll, dies hier aber ist süß‘ – und zwar aktuell vorhanden –, dann kann die Begierde zufällig jedes der Glieder bewegen. Also passiert es, dass wir trotz Gedanken und Meinung willensschwach werden.
  • Aristoteles: Metaphysik (Metaphysica) IX 5, 1048a 2-13

    Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Ursachen
    [1] Das eine [Prinzip] kann gemäß der Vernunft bewegen, und seine Vermögen sind der Vernunft entsprechend, das andere aber sind Vernunftloses und die vernunftlosen Vermögen – wobei das Erste in einem beseelten Wesen vorhanden sein muss, das zweite aber in beidem [Beseeltem wie Unbeseeltem].
    [2] Derartige Vermögen tun und reagieren notwendigerweise, wenn sich ihnen, wie sie können, das Tun und Reaktion Hervorbringende nähert, die anderen aber nicht notwendigerweise. Denn von den einen tut jedes Einzelne ein Einziges, bei den anderen aber Gegenteiliges, so dass es gleichzeitig Gegenteiliges tun wird. Das ist aber unmöglich.
    [3] Also ist es notwendig, dass es etwas Weiteres, Ausschlaggebendes gibt. Dies aber nenne ich Streben oder Vorzugswahl. Wonach nämlich etwas in ausschlaggebender Weise strebt, dies wird es tun, sobald es, wie es kann, zugegen ist und dem Reaktionsfähigen nahekommt.
  • Aristoteles: Nikomachische Ethik (Ethica Nicomachea) VI 2, 1139a 29-36. b 3-5

    Aristoteles erklärt die Elemente der Vorzugswahl (<i>prohairesis/προαίρεσις</i>) bzw. Entscheidung
    Beim Praktischen und dem Denken Unterliegenden stimmt die Wahrheit mit dem richtigen Streben überin. Der Ursprung für eine Handlung – woher die Bewegung stammt, nicht worum willen sie erfolgt – ist eine Wahl, und für die Wahl sind es ein Streben und ein Nachdenken, das auf etwas abzielt. Deswegen gibt es eine Wahl weder ohne Geist und Denken noch ohne ethischen Habitus. [...] Denn das Gut-Handeln ist ein Ziel, das Streben richtet sich aber hierauf. Deswegen ist die Wahl entweder strebendes Denken oder denkendes Streben, und ein so gearteter Ursprung ist der Mensch.
  • Aristoteles: Nikomachische Ethik (Ethica Nicomachea) II 6, 1106b 36-1107a 2

    Aristoteles’ Definition der ethischen Tugend
    Die [ethische] Tugend ist also eine die Vorzugswahl bestimmte Disposition, die in der Mitte in Bezug auf uns liegt, die bestimmt ist durch die Vernunft, d.h. so, wie der Kluge sie wohl bestimmt.
  • Augustinus von Hippo: Die freie Entscheidung (De libero arbitrio ) I 82f. 86 (p. 227, 27-36; 228, 54-57 Green)

    Augustinus fragt nach dem Willen und nach dem guten Willen und appelliert so an die Selbsterfahrung des Gesprächspartners
    [1] Augustinus: Ich frage Dich, ob es bei uns irgendeinen Willen gibt.
    Evodius: [...] Es kann nicht bestritten werden, dass wir einen Willen haben. [...]
    [2] A. Sage auch [...], ob Du meinst, dass Du auch einen guten Willen hast.
    E. Was ist ein guter Wille?
    A. [...] Sieh nur, ob Du ein richtiges und ehrbares Leben nicht anstrebst [...] oder etwa zu bestreiten wagst, dass wir, wenn wir dies wollen, einen guten Willen haben. [...]
    [3] Was nämlich liegt so sehr im Willen wie der Wille selbst? Ein jeder, der diesen als guten hat, hat gewiss das, was allen irdischen Königreichen und allen Lüsten des Körpers weit vorzuziehen ist.
  • Augustinus von Hippo: Der Gottesstaat (De civitate dei) XII 6 (p. 518, 30-519, 24 Dombart/Kalb)

    Augustinus erklärt den Grund dafür, warum die Engel um Luzifer von Gott abgefallen sind
    [1] Gewiss "ist der Anfang jeder Sünde der Stolz" (Jesus Sirach/Ecclesiasticus 10, 13). Die gefallenen Engel wollten also ihre Tapferkeit nicht für Gott bewahren, und die, die noch mehr wären, wenn sie dem angehangen hätten, der am höchsten ist, sie zogen das vor, was weniger ist, indem sie sich selbst ihm vorzogen. [...]
    [2] Wenn für diesen schlechten Willen nun überhaupt eine Ursache gesucht wird, dann wird nichts gefunden. [...] Denn wenn es irgendein Ding ist, dann hat dies entweder einen Willen oder es hat keinen; wenn es einen hat, dann entweder einen guten oder einen schlechten [...]. Da soll ein guter Wille zur Ursache der Sünde werden – etwas Absurderes lässt sich nicht vorstellen. Wenn aber das Ding, von dem man annimmt, es bewirke den bösen Willen, auch selbst einen bösen Willen hat, [...] dann untersuche ich die Ursache für diesen bösen Willen. [...] Aber dieser erste ist einer, den keiner bewirkt hat.
  • Bernhard von Clairvaux: De gratia et libero arbitrio (De gratia et libero arbitrio ) II. 3 (I, 167, 29-168, 4 Leclercq)

    Bernhard von Clairvaux (1090-1153) sieht den Willen als Ort der Entscheidungsfreiheit an
    [1] Die Zustimmung ist ein spontaner Wink des Willens [...]. Der Wille ist eine rationale Bewegung, die sowohl der Wahrnehmung als auch dem Streben vorsteht.
    [2] Gewiss hat er, wohin er sich wendet, die Vernunft stets als Begleiter und gleichsam als folgsamen Diener, aber nicht, weil er immer aus der Vernunft heraus, sondern weil er sich niemals ohne sie bewegt.
  • Robert von Melun: Zusammenstellung der Lehrsätze (Sententiae ) I, II, (0), 121. 143 (L 114va-b. 116va; B 179rb. 181vb)

    Der Universitätslehrer Robert von Melun (ca. 1100-1167) begründet die Verschiedenheit von Wille und Vernunft aus dem Sprachgebrauch heraus
    Denn die ganze Bibel und jeglicher Sprachgebrauch von Leuten, die mit Bedacht sprechen, schreibt der Vernunft das Unterscheidungsvermögen (discretio) zu und dem Willen das Streben (appetitus), und das nicht zu Unrecht, denn wir unterscheiden mit der Vernunft und streben mit dem Willen, und daher gehört die Unterscheidung zur Vernunft und das Streben zum Willen. [...] Es ist klar, dass diejenigen, die Seelenkräfte durcheinanderbringen, die sagen, der Vernunft komme das Wollen zu und dem Willen das Urteilen.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, Die Seele IV 1 (p. 165f. Rahman)

    Ibn Sīnā äußert sich im aristotelischen Sinne zum menschlichen Handeln und begründet dies mit der menschlichen Selbstbeobachtung
    Wenn die Lebewesen nicht etwas begehren, das sie in ihrem Begehren oder in ihrer Vorstellung auffassen oder nicht auffassen, gelangen sie nicht dazu, dies durch eine Bewegung zu erstreben. […] Sieh, die Leute kommen im Auffassen von etwas, das sie sinnlich wahrnehmen und sich vorstellen, darin überein, dass sie es sinnlich wahrnehmen und sich vorstellen. Aber sie unterscheiden sich darin, dass sie das begehren, was sie sinnlich wahrnehmen. Und die Situation des einzelnen Menschen hierin ist gewiss unterschiedlich. So stellt man sich Nahrung vor, und begehrt sie in einem Moment des Hungers, und begehrt sie nicht in einem Moment der Sättigung. Und auch die Schönheit der Sitten begehrt jemand nicht, wenn er sich schändliche Freuden vorstellt, und der andere begehrt sie. Und diese beiden Zustände [des Begehrens und Nicht-Begehrens] hat nicht der Mensch allein, sondern alle Lebewesen.
  • Albertus Magnus: Über die Nikomachische Ethik (Super Ethica) III (p. 160, 37-57 Kübel)

    Albertus Magnus definiert die freie Entscheidung (liberum arbitrium) als ein zwischen Vernunft und Wille anzusiedelndes Vermögen
    Das Wählen ist ein Akt der freien Entscheidung, welche ein mittleres Vermögen zwischen Vernunft und Wille ist, das etwas von beidem aufweist. Aber formal ist darin das, was dem Willen angehört. […] Etwas gegenüber etwas anderem durch ein Urteil und eine Festlegung darüber, dass es zu tun ist, vorzuziehen, kommt der Vernunft zu. Das geschieht nämlich auf die Weise des Wahren und auf die Weise einer Fertigkeit. […] Aber weil es bei der Wahl auch ein Richtig- und Falsch-Liegen gibt, muss sie auf ein Prinzip zurückgeführt werden, das zum Abweichen und zum Beurteilt-Werden geeignet ist. Und das ist die freie Entscheidung. […] Deswegen ist der Gegenstand der Überlegung, der gesucht wird, das von der Vernunft Festgelegte und das Gewählte dem Subjekt nach eines, aber das Wählbare unterscheidet sich gemäß der Form des Begehrten, die es aufweist.
  • Heinrich von Gent : Quodlibet I (p. 96. 100. 108 J. Müller)

    Der voluntaristische Denker Heinrich von Gent (ca. 1240-1293) betont, dass Freiheit im Willen und nicht in der Vernunft liegt
    [1] Wir [...] können nicht sagen, dass [...] in irgendjemandem ein Urteil der Vernunft einen schlechten Willen hervorgebracht hat. Es hätte dies nämlich aufgrund derselben Vernunft in jemand anderem hervorgebracht, weil wir annehmen, dass sie im Geiste auf gleiche Weise strukturiert gewesen sind. [...]
    [2] Der Wille wendet sich allein durch sich selbst einerseits zum Guten, aufgrund seiner natürlichen Freiheit, durch die er ein gutes Geschöpf Gottes ist [...]; er wendet sich auch schlechthin durch sich selbst zum Schlechten, aufgrund der natürlichen Fehlbarkeit, durch die er aus dem Nichts stammt, durch welche er einen Fehler im Hinblick auf das Nichts der Schuld machen kann [...], welches schlecht und eine Sünde ist [vgl. Augustinus].
    [3] Und aus einem solchen fehlbaren Prinzip heraus kann er, wenn etwas Schlechtes und etwas Gutes vorgeschlagen werden, das Schlechte bevorzugen – jedoch unter dem Gehalt irgendeines scheinbaren Gutes (denn er kann überhaupt nichts wählen [...] außer unter dem Gehalt irgendeines Gutes) –, und, wenn ein größeres und ein kleineres Gut vorgeschlagen werden, das kleinere Gut bevorzugen und irgendeines von zwei gleichen vorgeschlagenen Gütern vorziehen.
  • Heinrich von Gent : Quodlibet IX (p. 196 J. Müller)

    Heinrich von Gent über den Einfluss der Vernunft auf den Willen und seine Grenzen
    Wie sehr auch immer durch eine [...] beweisende Schlussfolgerung der Wille bestimmt wird – er kann dies frei zurückweisen, obwohl es ihm eine Last auferlegt, durch die er dazu geneigt wird, dies zu tun, wodurch das Gewissen beginnt, den Willen zu informieren, dass er dies tun muss, was er trotzdem, trotz des Gewissens, nicht machen kann. [...] Weil nämlich jene Last ihm von der Vernunft auferlegt wurde, weil ein Vorgang des Nachdenkens bestimmte, es sei als gut zu wollen, kann der Wille mit einem eigenen Befehl die Vernunft oder den Intellekt dazu antreiben, einen ebenso wirksamen Grund für das Gegenteil zu finden.
  • Platon: Das Gastmahl / Symposion (convivium) 204a-b

    Die Seherin Diotima klärt Sokrates auf, dass Liebe (ἔρως) das ideale Bild für den Philosophen ist
    Diotima: Kein Gott philosophiert oder begehrt, weise zu werden, er ist es ja, noch auch, wenn sonst jemand weise ist, philosophiert dieser. Ebensowenig philosophieren auch die Unverständigen oder streben, weise zu werden. Denn das ist eben das Arge am Unverstande, dass er, ohne schön und gut und vernünftig zu sein, doch sich selbst ganz genug zu sein dünkt. [...]
    Sokrates: Wer also, Diotima, sprach ich, sind denn die Philosophierenden, wenn es weder die Weisen sind noch die Unverständigen?
    Diotima: Das muss ja schon, sagte sie, jedem Kinde deutlich sein, dass es die zwischen beiden sind, zu denen auch Eros gehören wird. Denn die Weisheit gehört zu den Schönsten, und Eros ist Liebe zum Schönen; so dass Eros notwendig philosophisch ist und als philosophischer zwischen den Weisen und den Unverständigen in der Mitte steht.
  • Platon: Theaitetos (Theaetetus) 176ab

    Das Ähnlich-Werden mit Gott als Ziel der platonischen Philosophie
    Sokrates: Deswegen ist es nötig, so schnell wie möglich von hier nach dort zu fliehen. Die Flucht ist aber das Ähnlichwerden mit Gott, soweit es möglich ist. Ähnlichwerden besteht aber darin, mit Klugheit gerecht und würdig zu werden. [...] Gott ist niemals auf irgendeine Weise ungerecht, sondern so gerecht wie nur irgend möglich, und nichts ist ihm ähnlicher als jemand von uns, der so gerecht wird wie möglich.
  • Aristoteles: Nikomachische Ethik (Ethica Nicomachea) I 6, 1098a 12-18

    Aristoteles sogenanntes Ergon-Argument bildet die Grundlage seiner Ethik
    Wir nehmen aber als Funktion (ergon) des Menschen [...] eine Tätigkeit der Seele und mit Vernunft verbundene Handlungen an, als diejenige des guten Mannes aber dasselbe in guter und schöner Weise, wobei ein jedes entsprechend der eigentümlichen Tugend gut verrichtet wird. Wenn es sich so verhält, dann erweist sich das Gut für den Menschen als eine Tätigkeit der Seele gemäß der Tugend, und wenn es mehrere Tugenden gibt, gemäß der besten und vollendetsten.
  • Aristoteles: Nikomachische Ethik (Ethica Nicomachea) X 7, 1177a 14-25

    Aristoteles über die theoretische Tugend als Basis der Eudaimonie
    Das, von dem man annimmt, dass man seiner Natur nach herrscht, führt und Einsicht in die schönen und göttlichen Dinge hat, mag es etwas Göttliches sein oder das Göttlichste in uns – seine Tätigkeit gemäß der eigentümlichen Tugend wird das vollendete Glück sein. Dass diese Tätigkeit eine theoretische ist, wurde gesagt. [...] Diese Tätigkeit ist nämlich die höchste, wie auch der Geist von dem in uns Befindlichen wie seine Gegenstände von dem Erkennbaren. Sie ist ferner die kontinuierlichste Tätigkeit, da wir eher kontinuierlich betrachten können als irgendeine Handlung verrichten. [...] Unter den Tätigkeiten gemäß einer Tugend ist weiterhin nach übereinstimmender Auffassung die gemäß der Weisheit die lustvollste.
  • Aristoteles: Nikomachische Ethik (Ethica Nicomachea) X 8, 1178a 9-14

    Aristoteles über die Tugenden als zweitbeste Möglichkeit, glücklich zu werden
    An zweiter Stelle [ist] dasjenige Leben [glückselig], das der sonstigen Tugend gemäß ist. Denn die dieser entsprechenden Tätigkeiten sind menschlicher Art. Gerechtes, Tapferes und die übrigen den Tugenden entsprechenden [Handlungen] üben wir gegeneinander im geschäftlichen Verkehr, in Notlagen, in Handlungen aller Art und bei den Emotionen dadurch aus, dass wir allem so viel zumessen, wie ihm gebührt. Dies sind aber alles offenbar menschliche Dinge.
  • Cicero: Das höchste Gut und das höchste Übel (De finibus bonorum et malorum) V, 15. 17f

    Cicero referiert die Einteilung der Ziele der Philosophie nach dem Skeptiker Karneades
    Unser Lucius handelt also klug, wenn er in erster Linie vom höchsten Gut hören will; denn wenn dieses festgelegt ist, ist in der Philosophie alles festgelegt. Denn wenn in den übrigen Dingen etwas entweder ausgelassen oder nicht gewusst wird, bringt das keinen Nachteil mit sich, der die Bedeutung von jedem dieser Sachen überschreitet, von denen etwas vernachlässigt wurde. Wenn das höchste Gut unbekannt ist, dann muss notwendigerweise der Gehalt des Lebens unbekannt sein. Daraus folgt ein solcher Irrtum, dass man nicht wissen kann, in welchen Hafen man sich zurückzieht. [...] Was es aber ist, dass so bewegt und von Natur aus so seit der ersten Entstehung erstrebt wird, steht nicht fest, und hierüber herrscht unter den Philosophen [...] größte Uneinigkeit. [...] Einige meinen, das primäre Streben und das primäre Vermeiden von Schmerz richte sich auf die Lust. Andere als sie erstreben das, was sie Primäres der Natur nach nennen, wozu sie Unversehrtheit rechnen [...]. Diesem ähnlich ist das Primäre in den Seelen, wie die Funken und Samen der Tugenden.
  • Al-Fārābī : Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt XIII, 3. 5 (p. 202-206 Walzer)

    Al-Fārābī definiert die Loslösung vom Körper und das Intellektwerden als die Eudaimonie
    [1] Die ersten Denkobjekte sind die, die für alle Menschen gelten, und zwar beispielsweise, dass das Ganze größer ist als der Teil. [...]
    [2] Das Vorhandensein der ersten Denkobjekte beim Menschen bildet seine erste Vollkommenheit. Aber diese Denkobjekte sind ihm nur gegeben, damit er sie dazu verwendet, die letzte Vollkommenheit (al-istikmāl al-aḫir), das Glücklichsein (as-saʿāda), zu erreichen. Denn dieses besteht darin, dass die menschliche Seele an Vollkommenheit in ihrer Existenz bis dahin gelangt, wo sie für ihr Fortbestehen keine Materie benötigt – denn sie wird eines der unkörperlichen Dinge und eine der immateriellen Substanzen –, und dass sie für immer fortwährend in diesem Zustand verbleibt, wobei ihr Rang jedoch unter dem Rang des aktiven Intellekts (al-ʿaql al-faʿʿāl) ist.
  • Al-Fārābī : Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner der vortrefflichen Stadt XIII, 6 (p. 206 Walzer)

    In neuplatonischer Tradition wird das ethische Verhalten als der Weg zum Glücklichsein bestimmt
    Dieser Zustand kann nur durch bestimmte willentliche Akte erreicht werden, von denen einige gedankliche, andere körperliche Akte sind [...], und zwar weil von den willentlichen Akten manche das Glücklichsein behindern. Das Glücklichsein ist das Gut, das seinem Wesen nach erstrebt wird, und es wird überhaupt nicht und zu keiner Zeit erstrebt, um durch es etwas anderes zu erreichen, und es gibt nichts anderes über dieses hinaus, Größeres als dieses, das der Mensch erreichen könnte.
  • Ibn Rušd (Averroes): Kommentar zu Aristoteles’ Physik (In Aristotelis Physicam commentarium) N.N

    Der arabische Aristoteliker Ibn Rušd/Averroes fasst in seinem Kommentar zur aristotelischen <i>Physik</i>, der ins Lateinische übersetzt wurde, noch einmal das aristotelische Curriculum zusammen
    Der Nutzen dieses Buchs ist ein Teil des Nutzens der theoretischen Wissenschaft: und in der Wissenschaft, welche die willentlichen Handlungen betrachtet, wurde erklärt, dass das Sein des Menschen gemäß seiner letzten Vervollkommnung und seine vollkommene Substanz ist, dass er durch die theoretische Wissenschaft vervollkommnet wird; und diese Haltung ist für ihn die letzte Glückseligkeit und das ewige Leben. [...] Und Alexander erklärte im Prooem zu diesem Buch, wie die Wissenschaft von diesen Tugenden auf die theoretische Wissenschaft folgt. [...] Das Verhältnis dieses Buches zu allen theoretischen Wissenschaften, nämlich der Vergleich der Wissenschaft von der Natur, entspricht dem Verhältnis eines Teils zum Ganzen: denn die Wissenschaften sind auf zweierlei Weise: eine wird wegen der Übung aufgezählt, wie die Mathematik, die andere wegen der Vervollkommnung, deretwegen diese ist, und dies ist die Wissenschaft von der Natur und die göttliche [Wissenschaft].
  • Alberich von Reims: Die Philosophie (Philosophia) (p. 29. 33 Gauthier)

    Der ,Averroist’ Alberich von Reims (um 1250) über die Vorzüge der Philosophie
    [1] Drei sind es, wie Empedokles sagt, in erster Linie unter der gesamten Vielfalt der Dinge, die das großartigste Geschenk der Großzügigkeit Gottes, nämlich die Philosophie, erleuchten und erheben: die Verachtung des beweglichen Überflusses, das Streben nach der göttlichen Seligkeit und die Erleuchtung des Geistes. [...]
    [2] Denn das Sein des Menschen in seiner höchsten Vollkommenheit oder Vollständigkeit besteht darin, dass er durch die theoretischen Wissenschaften vollkommen ist, wie Averroes im Prolog [zum Kommentar] zum Achten Buch von [Aristoteles‘] Physik sagt. [...]
    [3] Nun werden wir [hierhin] durch ein natürliches Streben gezogen, wie die Göttin der Wissenschaften an ihrem Anfang darlegt: "Alle Menschen" usw. [streben von Natur aus zu wissen] (Metaphysik I 1, 980a 21). Hierzu sagt der Kommentator: "Wir haben ein natürliches Verlangen, die Wahrheit zu wissen." Zu Recht, denn, wie Aristoteles im Zehnten Buch der Nikomachischen Ethik sagt, ist der Mensch nur Intellekt (X 7, 1178a 2-7).
    [4] Dieser Intellekt wird aber, nach dem Zeugnis des genannten Averroes [...] durch die Philosophie vervollständigt. [...] Ihm stimmt Seneca zu, wenn er sagt: "Ohne Bildung" zu leben, "ist Tod und ein Begräbnis des lebenden Menschen" (Seneca, Brief 82, 3).
  • Albertus Magnus: Über die Nikomachische Ethik (Super Ethica) X 16, quaestio 6 (Coloniensis 14, 2, 774, 51-775, 12)

    Der Dominikaner-Mönch und begeisterte Aristoteliker Albertus Magnus sieht innerhalb des Christentums einen Platz für die philosophische Glücksvorstellung des Averroes
    [1] Die theologische Kontemplation stimmt in einer Hinsicht mit der philosophischen überein und unterscheidet sich in einer anderen; daher sind beide nicht schlechthin identisch.
    [2] Sie stimmt nämlich darin überein, dass es auch in der theologischen einen Einblick auf bestimmte geistige Dinge durch den Intellekt gibt, die ohne ein Hindernis durch die Leidenschaften von Seiten des Subjekts und durch einen Zweifel von Seiten des Glaubens darauf hingeordnet ist, in Gott zu ruhen, worin die höchste Glückseligkeit besteht.
    [3] Sie unterscheidet sich aber im Habitus, im Ziel und im Objekt. Und zwar im Habitus, weil die theologische durch ein Licht betrachtet, das von Gott eingegeben wurde, aber der Philosoph durch den erworbenen Habitus der Weisheit; im Ziel, weil die theologische das letzte Ziel in der Betrachtung Gottes im Himmel ansetzt, aber der Philosoph in einer Vision, durch die er ein Stück weit in diesem Leben gesehen wird; zudem im Objekt [...] im Hinblick auf die Art und Weise, denn der Philosoph betrachtet Gott, insofern er ihn als eine bestimmte Konklusion aus einem Beweis besitzt, aber der Theologe betrachtet ihn als etwas, was oberhalb von Vernunft und Intellekt existiert.
  • Thomas von Aquin: Summa theologiae I-II (Summa theologiae) I-II 1, 7 resp. und ad 1

    Thomas von Aquin über die Mannigfaltigkeit möglicher Ziele des Menschen und die Notwendigkeit des Strebens zum letzten Ziel
    [1] Vom letzten Ziel können wir auf zweierlei Weise sprechen: Auf die eine Weise gemäß dem Gehalt des letzten Ziels, auf die andere Weise gemäß dem, worin der Gehalt des letzten Ziels gefunden wird.
    [2] Im Hinblick auf den Gehalt des letzten Ziels stimmen nun alle im Streben auf das letzte Ziel hin überein, weil alle danach streben, dass ihre Vervollkommnung erfüllt wird [...].
    [3] Aber im Hinblick auf das, worin dieser Gehalt gefunden wird, stimmen nicht alle Menschen im letzten Ziel überein. Denn manche Menschen erstreben Reichtum als vollendetes Gut [...]. Die, die sündigen, wenden sich von dem ab, worin wahrhaft der Gehalt des letzten Ziels gefunden wird, aber nicht von der Intention auf das Ziel hin, die sie zu Unrecht in anderen Dingen suchen.
  • Herodot von Halikarnass(os) : Historien (Herodot) 2, 123 = DK 14.1

    Herodot (6. Jhdt.), einer der ältesten griechischen Historiker überhaupt, berichtet über die angebliche Herkunft der Seelenwanderungslehre aus Ägypten (das hier für orientalische Weisheit im Allgemeinen steht)
    Die Ägypter haben auch als erste die Ansicht vertreten, dass die Seele des Menschen unsterblich ist und dass sie, wenn der Leib vergeht, immer wieder in ein anderes Lebewesen, das geboren wird, eingeht; wenn sie alle Lebewesen des Festlandes, des Wassers und der Luft durchwandert habe, gehe sie wieder in den Leib eines Menschen, der geboren werde, ein. Ihr Durchgang dauere 3000 Jahre. Es gibt Griechen, welche diese Lehren verwendet haben, die einen früher, die anderen später, als ob es sich um ihre eigene Erfindung handle. Ich kenne ihre Namen, schreibe sie aber nicht auf.
  • Xenophanes: Fragmente Über die Natur; 21 B 7

    Xenophanes spottet über Pythagoras
    Sie sagen, dass Pythagoras einmal vorbeikam,
    als ein Hündchen geschlagen wurde, dieses bemitleidete und sprach:
    "Hör auf, schlag nicht mehr, denn es ist die Seele eines Freundes.
    Als ich ihre Stimme hörte, habe ich sie sofort erkannt."
  • Platon: Apologie des Sokrates (apologia Socratis) 40c-41a

    Sokrates nennt zwei mögliche Todesvorstellungen sowie die Vorzüge der ersten Alternative
    [1] Mir scheint nämlich dieses Ereignis etwas Gutes geworden zu sein, und unmöglich können wir Recht haben, wenn wir annehmen, der Tod sei etwas Schlechtes. [...] Denn eins von beiden ist das Totsein, entweder soviel als nichts sein noch irgendeine Empfindung von irgendetwas haben, wenn man tot ist; oder, wie gesagt wird, es ist ein Wechsel und ein Umzug der Seele von hier an einen anderen Ort.
    [2] Und ist es nun gar keine Empfindung, sondern wie ein Schlaf, in welchem der Schlafende auch nicht einmal einen Traum hat, so ist der Tod gewiss ein wunderbarer Gewinn; denn ich glaube, wenn jemand einer solchen Nacht, in welcher er so fest geschlafen, dass er nicht mal einen Traum gehabt, alle übrigen Tage und Nächte seines Lebens gegenüberstellen und nach reiflicher Überlegung sagen sollte, wieviel Tage er angenehmer und besser als diese Nacht in seinem Leben gelebt hat [...], er würde finden, dass diese sehr leicht zu zählen sind gegen die übrigen Tage und Nächte.
    [3] Ist aber der Tod andererseits wie eine Auswanderung von hier an einen anderen Ort und ist das wahr, was gesagt wird, dass alle Gestorbenen dort sind, was für ein größeres Gut könnte es wohl geben als dieses, o ihr Richter? Denn wenn einer in der Unterwelt angelangt ist, befreit von den hiesigen, sich so nennenden Richtern, und dort die wahren Richter antrifft […], wäre das wohl eine schlechte Übersiedlung?
  • Platon: Gorgias (Gorgias) 524b

    Eine Definition des Todes
    Der Tod ist, wie mir scheint, nichts anderes als die Lösung zweier Dinge voneinander, der Seele und des Körpers. Wenn sie sich aber voneinander gelöst haben, dann hat jedes von beiden um nicht viel weniger die Lage, die es hatte, als der Mensch lebte, der Körper seine Natur und sämtliche deutlichen Sorgen und Empfindungen.
  • Platon: Gorgias (Gorgias) 524d-525a. 526bc

    Das gerechte Gericht im Jenseitsmythos des Gorgias
    [1] Gut sichtbar ist alles an der Seele, wenn sie vom Leibe entkleidet ist, sowohl was ihr von Natur eignete als auch die Veränderungen, welche der Mensch durch sein Bestreben um dies und jenes Ding hatte. Wenn sie nun vor den Richter kommen, und zwar die aus Asien vor den Rhadamanthys, so stellt Rhadamanthys sie vor sich hin und beschaut die Seele eines jeden. ohne zu wissen, wessen Seele es ist, aber oft [...] findet er nichts Gesundes an der Seele, sondern durchgepeitscht findet er sie und voller Schwielen von Meineid und Ungerechtigkeit, all das, was jede einzelne Handlung dieses Menschen der Seele aufgeprägt hat. [...]
    [2] Wenn also dieser Rhadamanthys so jemanden ergriffen hat, so weiß er weiter gar nichts von ihm, weder wer noch aus welchem Geschlecht er ist, sondern nur, dass er böse ist. Und sowie er dies gesehen hat, schickt er ihn nach dem Tartaros und gibt an, ob er ihn für heilbar oder ob er ihn für unheilbar hält, worauf dann jener nach seiner Ankunft das Gebührende leiden muss. Erblickt er aber bisweilen eine andere Seele, die würdig und mit Wahrheit gelebt hat, eines für sich lebenden Mannes oder sonst eines, der das Seinige getan hat, [...] so freut er sich und sendet sie zu den Inseln der Seligen.
  • Lukrez (Titus Lucretius Carus): Über die Natur der Dinge (De rerum natura) III 445-462

    Der römische Dichter Lukrez formuliert die epikureische Lehre vom Tod
    Zweitens beobachten wir, wie der Verstand zusammen mit dem Körper geboren wird, zusammen mit ihm wächst und zusammen mit ihm altert.
    [...]
    Wenn von dort ein Alter mit robuster Kraft erreicht ist, ist auch ihr Urteilsvermögen größer und hat die Kraft des Geistes zugenommen. [...] Später, wenn der Körper bereits von den starken Kräften des Alters gebrochen ist und bei ermüdeten Kräften die Glieder zusammensinken, dann lahmt die Einsicht, faselt die Zunge, der Verstand; alles lässt uns im Stich und fehlt uns zur selben Zeit. Also ist es auch angemessen, dass die gesamte Natur der Seele sich wie Rauch in die Höhen der Luft auflöst. [...] Es kommt hinzu: Wir sehen, dass ebenso, wie der Körper selbst schreckliche Krankheiten und starke Schmerzen in sich aufnimmt, so auch der Geist schlimme Sorgen, Trauer und Furcht erlebt; dass er auch am Untergang teilhat, ist angemessen.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, V 4 (p. 227-229 Rahman)

    Ibn Sῖnā erklärt das Verhältnis von Seele und Körper
    [1] Im Hinblick darauf, dass die Seele beim Tode des Körpers nicht stirbt, so ist jede Sache, die beim Zugrundegehen einer anderen Sache zugrunde geht, mit ihr auf eine Art des Zusammenhangs verbunden. […] Und wenn die Verbindung der Seele mit dem Körper erforderlich für das Sein und ein wesentlicher Aspekt dafür ist, kein akzidenteller, so steht jedes von beidem [Körper und Seele] in einer wesentlichen Relation zum anderen. […] Und wenn dies ein akzidenteller, nicht wesentlicher Aspekt ist, dann wird, wenn eines der beiden zugrunde geht, das andere Akzidens von seiten der Relation vernichtet, aber das Wesen geht bei dessen Zugrundgehen von seiten dieser Verbindung nicht zugrunde,
    [2] Wenn nun die Materie des Körpers neu entsteht, so dass es sich fügt, dass das Werkzeug für die Seele und ihr Königreich da ist, bringen die abgetrennten Ursachen die Einzelseele hervor, und sie wird so von ihnen hervorgebracht. Nun ist ihr Hervorvorbringen ohne spezifizierende Ursache, als Hervorbringen einer ohne die andere, absurd, und die Realität einer Vielheit der Zahl nach unmöglich. […].
    [3] Und auch, wenn es möglich wäre, dass eine Einzelseele entsteht und ihr Werkzeug nicht entsteht, durch das sie sich vollendet und tätig ist, so wäre sie nutzlos in ihrem Sein. Aber es gibt nichts Nutzloses in der Natur. Und wenn das unmöglich ist, so gibt es keine Macht dazu.
    [4] Und wenn das Neuentstehen einer Sache beim Neuentstehen einer anderen Sache erfolgt, ist es nicht notwendig, dass sie bei deren Zerstörung zerstört wird. Das ist nur der Fall, wenn das Wesen der Sache durch und in dieser Sache liegt. […] Und was das Sein der Seele konstituiert, ist eine unkörperliche Sache und keine Kraft in einem Körper. Vielmehr ist es ein beständiges Wesen, das frei ist von Materie und von Ausdehnung.
  • Ibn Sīnā (Avicenna): Über die Seele Buch der Genesung, V 4 (p. 231f. Rahman)

    Ibn Sῖnā begründet die Unzerstörbarkeit der Seele als solcher
    [1] Und ich sage auch, dass keine andere Ursache die Seele gänzlich vernichten kann. […] Wir sagen, dass bei zusammengesetzten Sachen und einfachen Sachen, die nicht dauerhaft in der Zusammensetzung bestehen, ein Akt der Fortdauer zusammen mit einer Möglichkeit des Zugrundegehens bestehen kann. Und bei einfachen, in ihrem Wesen abgetrennten Sachen können diese Aspekte nicht zusammen bestehen. […]
    [2] Und wenn die Seele schlechthin einfach ist, so dass sie nicht in Materie und Form geteilt werden kann, und wenn sie [mit einem Körper bzw. anderen Seelenvermögen] zusammengesetzt ist, wollen wir das Zusammengesetzte beiseite lassen und die Substanz betrachten, die ihre Materie ist, und wir wollen die Rede lenken auf die ihre Materie selbst und über diese sprechen. Wir sagen also: Diese Materie ist entweder dauerhaft so teilbar […] – und das ist absurd; oder die Sache, welche die Substanz und Wurzel ist, ist unzerstörbar. […] Und das ist, was wir Seele nennen. […] Und dann ist klar, dass es in der Substanz der Seele nicht die Möglichkeit gibt, dass sie zugrunde geht.
  • Albertus Magnus: Über die Seele (De anima) III 3, 13 (225, 26-37 Stroick)

    Albertus Magnus begründet die Unsterblichkeit der Seele mit ihrer Fähigkeit, ohne Körper zu wirken
    Jedes Wesen oder jede Substanz, aus der natürliche Vermögen fließen, die sich selbst und ihren Tätigkeiten entsprechend abgetrennt sind, ist eine abgetrennte Substanz. Der Beweis dafür ist folgender: Wenn etwas durch die Substanz mit dem Körper vermischt wäre, dann wäre sein Vermögen ein Vermögen des Vermischten, und dann wäre es kein abgetrenntes Vermögen. Die Seele ist aber eine derartige Substanz, die potentielle Teile hat, den möglichen und den aktiven Intellekt, die an sich abgetrennte Teile sind. Also ist sie auch selbst abgetrennt. Etwas Abgetrenntes wird in seiner Substanz, seinem Vermögen und seiner Aktivität bei der Zerstörung des Körpers nicht zerstört. Die rationale Seele kann also bei Zerstörung des Körpers nicht zerstört werden.
  • Albertus Magnus: Über die Natur und den Ursprung der Seele (De natura et origine animae) II 6 (27, 78-28, 25; 29, 2-45 Geyer)

    Argumente des Albertus Magnus für die Unsterblichkeit der Seele
    [1] Alles, was aus sich heraus Gründe für das an sich Gute und das Fromme, das zur Gottesverehrung und zur Güte an sich gehört, hat, hat keine Abhängigkeit vom Körper. Das wird dadurch bewiesen, dass das, was an sich gut ist, uns durch seine eigene und eigentümliche Kraft anzieht und, und das ist das, was wir um seiner selbst willen erstreben, obwohl es keinen Nutzen oder keine andere Freude bei sich trägt. […] Alles, was aber gemäß dem zum [mit dem Körper] Verbundenen Passenden erstrebt wird, wird gemäß dem Gehalt des Nützlichen oder dem des Freudvollen erstrebt und gesucht. […] Und das widerspricht der Definition des an sich Guten, des Frommen sowie des Nützlichen. […] Und ein Zeichen dafür ist, dass keines der anderen Tiere, vom Menschen abgesehen, jemals etwas an sich Gutes, Frommes oder Religiöses anstrebt oder sucht. […] Was nicht vom Körper abhängt, wird nicht zerstört, wenn er zerstört wird. Die rationale Seele vergeht also nicht, wenn der Körper vergeht.
    [2] All das, was ein einziges Bestes seiner Natur nach hat, weist eine Analogie dahingehend auf, an diesem Besten teilzuhaben. Aber das seiner Natur nach Beste für jede Intellektnatur ist das kontemplative Glücklichsein. […] Deswegen sagt Aristoteles, dass der Mensch nur ein Intellekt ist, weil das Gute des Intellekts allein ihm eigentümlich und seiner Natur entsprechend ist. Also besteht eine Analogie Gottes, der göttlichen Intellekte und des Menschen zu diesem Besten. […] Diese Analogie kann es nur gemäß einer wesenhaften und ewigen Fähigkeit und Tätigkeit geben, die nichts mit dem Körper gemeinsam hat. […] Also ist die Intellektseele abgetrennt […] und hat ewiges Sein.
  • Paulus von Tarsus (Apostel): 1. Korintherbrief 15, 35-43. 50-53

    Der Apostel Paulus beantwortet Fragen zur Auferstehung der Toten
    Es könnte aber jemand fragen: Wie werden die Toten aufgeweckt? Mit was für einem Körper kommen sie? Du Narr: Was du säst, wird nicht lebendig gemacht, wenn es nicht stirbt. Und wenn du etwas säst, dann säst du nicht den Körper, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, sei es von Weizen oder etwas anderem. Gott aber gibt ihm einen Körper, wie er gewollt hat, einem jeden Samen einen eigenen Leib. Nicht alles Fleisch ist das gleiche Fleisch, sondern ein Fleisch haben die Menschen, ein anderes das Vieh, ein anderes die Vögel, ein anderes die Fische. Und es gibt himmlische Körper und irdische Körper; aber ein anderes Ansehen haben die himmlischen Körper, ein anderes die irdischen Körper. Ein anderes Ansehen hat die Sonne, ein anderes Ansehen hat der Mond, ein anderes Ansehen haben die Sterne. Denn ein Stern unterscheidet sich vom andern im Ansehen. So ist auch die Auferstehung der Toten. Es wird gesät in Vergänglichkeit, es wird auferweckt in Unvergänglichkeit. [...] Es wird gesät ein seelischer Leib, es wird auferweckt ein geistiger Leib.
  • Gregor von Nyssa: Über die Seele und die Auferstehung (De anima et resurrectione) Gregorii Nysseni Opera 3, 3 (p. 1, 4-8; 2, 9-3, 1; 4, 1f.; 5, 2-7 Spira)

    Gregor von Nyssa begegnet in seinem Dialog ,Über die Seele und die Auferstehung‘ seiner Schwester Makrina als tröstender Lehrerin
    [1] Und ich sagte: "Wie kann man dies unter den Menschen richtig aufnehmen, wo doch in einem jeden eine Art natürliches Misstrauen gegenüber dem Tod besteht und wo die, welche Sterbende sehen, den Anblick nicht wohlmeinend aufnehmen und die, denen der Tod naht, ihn fliehen, soweit es möglich ist?" […]
    [2] "Was aber", sagte die Lehrerin, "scheint Dir selbst an genau diesem, dem Tod, am meisten betrüblich?"
    Gregor: Wenn wir […] vom Ausgang der Seele hören, sehen wir das übrig Gebliebene und wissen doch über das von ihm Getrennte nicht, was es der Natur nach ist und wohin es herübergeschritten ist, da weder Erde, noch Luft, noch Wasser, noch irgendein anderes Element in ihm die Kraft erkennen lässt, die den Körper verlassen hat.
  • Gregor von Nyssa: Über die Seele und die Auferstehung (De anima et resurrectione) Gregorii Nysseni Opera 3, 3 (p. 27, 13-23 Spira)

    Im Horizont des Auferstehungsglaubens betont Gregor die bleibende Verbindung der unkörperlichen Entitäten Gott und Seele mit den Elementen
    Makrina: Nun haben wir keinen Zweifel daran, dass die unsagbare Weisheit Gottes, welche im All die göttliche Natur und Kraft widerspiegelt, in allem Seienden ist, so dass alles im Sein bleibt: Obwohl die göttliche Wesenheit, wenn Du nach dem Logos ihrer Natur fragst, unendlich weit entfernt ist von dem, was sich in der Schöpfung zeigt und gedacht wird, so besteht doch Einigkeit, dass dieses der Natur nach Entfernte in ihnen ist. Ebenso ist es keineswegs unglaubwürdig, dass auch die Wesenheit der Seele, die von sich aus etwas ganz anderes ist […] nicht in verhindernder Weise gegenüber dem Sein des im Kosmos auf die Weise der Elemente Betrachteten besteht, das ihr gemäß dem Logos der Natur nicht zukommt.
  • Al-Ġazālī : Die Inkohärenz der Philosophen Einleitung § 22. 25f. (p. 7. 10 Marmura)

    Al-Ġazālī über seine Ziele und seine Vorgehensweise in der Inkohärenz der Philosophen
    [1] Unser Ziel ist es, diejenigen zu warnen, die eine gute Überzeugung von den Philosophen haben und meinen, ihre Methoden seien frei von Widersprüchen.
    [2] Dies gehen wir an durch Aufzeigen von Aspekten ihrer Inkohärenz. Deswegen trete ich in die Auseinandersetzung mit den Philosophen nur auf die Weise der Kritik und des Bestreitens ein, nicht auf die Weise von Ansprüchen und Behauptungen. [...]
    [3] Ja, ihre Behauptung, dass die Beherrschung der logischen Disziplinen unerlässlich ist, trifft zu. Aber die Logik ist nicht auf sie beschränkt; sie ist lediglich die Disziplin, welche wir im Kalām „Buch der Theorie“ nennen, wobei sie zur Einschüchterung deren Bezeichnung zu „Logik“ änderten. [...]
    [4] Wir werden deutlich zeigen, dass die Philosophen in ihren metaphysischen Wissenschaften nicht erfüllen konnten, was sie in dem Teil der Logik, der über den Beweis geht [d.h. den Analytica posteriora], als Bedingung für die Richtigkeit der Materie des Syllogismus gefordert haben, noch ihre Forderungen über die Schlussfigur eines Syllogismus, die sie im Buch des Syllogismus [d.h. den Analytica priora] vertreten, noch die Postulate, die sie in der Isagoge [des Porphyrios] und in den Kategorien dargelegt haben. Alles dies sind Teile der Logik sowie ihre Einführungen.
  • Al-Ġazālī : Die Inkohärenz der Philosophen XX § 25. 46 (p. 215. 221 und § 48, p. 222 Marmura)

    Al-Ġazālī verteidigt die Idee einer Auferstehung der Toten und einer Körperlichkeit des Paradieses gegen die philosophische Lehre von der Unsterblichkeit der unköperlichen Seele
    [1] (25) Was [im Koran] über die letzten Dinge versprochen wurde, ist, durch die Macht Gottes des Erhabenen, nicht absurd. Also muss man dem klaren Sinn der Rede (ṯāhir al-kalām) folgen, aber in ihrem Inhalt, der augenfällig in ihr steht. (26) Und wenn gesagt wird "Rationale Beweise haben die Unmöglichkeit der Auferweckung der Toten gezeigt" [...], dann verlangen wir deren Darlegung.
    (46) [Die Philosophen sagen:] "Wenn der Körper des auferweckten Menschen aus Stein wäre, aus Saphir, aus Perlen oder aus purer Erde, dann wäre er kein Mensch." Vielmehr kann man ihn sich nicht als Mensch vorstellen, außer er ist in der spezifischen Gestalt eines Menschen geformt, zusammengesetzt aus Knochen, Adern, Fleisch, Knorpeln und Mischungen. [...] Aber dann ist es nicht möglich, dass ein Körper neu entsteht, damit die Seele in ihn zurückgeführt wird, außer durch diese Dinge, und für diese gibt es viele Ursachen. [...] Und die Aussage: "Es wird ihm doch gesagt ,sei, und er ist‘" (kun wajakūn: Koran 40, 68 [vgl. Vorlesung 2]), ist nicht rational nachvollziehbar, weil Erde nicht angesprochen werden kann und ihr Umschlagen (inqilāb) in einen Menschen ohne das Zurückführen durch diese Phasen [d.h. die Entstehung der menschlichen Organe durch natürliche Prozesse] absurd ist. [...]
    [2] (48) [Al-Ġazālīs Antwort:] Freilich geben wir zu, dass der Aufstieg durch diese Phasen unabdingbar ist, bevor etwas der Körper eines Menschen entsteht. [...] Aber das ist in einem Moment möglich oder über eine längere Dauer. [...] Aber das ist nicht die Frage, sondern die Untersuchung geht nur darum, ob der Aufstieg durch diese Phasen schlichtweg durch Macht (bi-muǧarrad qudra), ohne etwas Mittleres, oder durch irgendeine Ursache (bi-sabab min al-asbāb) abläuft. Und für uns ist, wie wir erwähnt haben, beides möglich. [...] Die Verbindung von in ihrer Existenz verbundenen Dingen besteht nicht auf die Weise der Notwendigkeit, sondern eine Unterbrechung der gewöhnlichen Abläufe kann vorkommen, so dass diese Dinge durch die Macht Gottes des Erhabenen ohne Existenz ihrer Ursachen zustande kommen.
  • Al-Ġazālī : Der Erretter aus dem Irrtum IV (p. 40f. Elschazlī = p. 59. 61 Maḥmūd 1968)

    Al-Ġazālī über die Rolle der Mystik für den suchenden Menschen
    Nachdem ich mit den Wissenschaften fertig war, wandte ich mich in meinem Eifer dem Weg der Ṣūfīs zu. Ich erkannte, dass ihr Weg nur durch Wissen und Tätigkeit vollendet wird. Der Ertrag ihrer Tätigkeit besteht darin, die Hindernisse der Seele zu beseitigen [...], bis man hierdurch die Befreiung des Herzens von allem Nicht-Göttlichen erreicht sowie seine Erleuchtung durch das Gedenken an Gott. [...] Deshalb erkannte ich gewiss, dass diese Meister der Zustände [des mystischen Erlebens], nicht Freunde von Worten sind.
  • Platon: Das Gastmahl / Symposion (convivium) 210c-e

    Diotimas Schilderung des mystischen Aufstiegs zum Schönen
    Nach den Unternehmungen aber muss er weiter zu den Arten des Wissens gehen, damit er auch die Schönheit der Arten des Wissens schaut und, in Anbetracht des Blicks auf vielerlei Schönes, nicht mehr nur auf eines […], viele schöne und prachtvolle Reden und Gedanken in einer unermesslichen Philosophie erzeugt, bis er, hierin gestärkt und gewachsen, ein einziges solches Wissen erblickt, das sich auf ein Schönes der folgenden Art bezieht.
    Hier aber, sprach Diotima, bemühe dich möglichst stark auf mich zu achten: Wer nämlich bis hierhin zu den Objekten der Liebe hin erzogen wurde, dass er das einzelne Schöne der Reihe nach und richtig schaut sowie zum höchsten Objekt der Liebe geht, der schaut ganz plötzlich ein Schönes von einer wunderbaren Natur, genau dasjenige, Sokrates, auf das alle vorherigen Mühen abzielten.
  • Ibn Ṭufail : Ḥayy ibn Yaqẓān (Auszüge v. p. 7f. Gauthier)

    Ibn Ṭufail erklärt den Unterschied der <i>unio mystica</i> von komplettem (philosophischem) Wissen
    Stell dir einen blind geborenen Menschen vor. [...] Seit es ihn gibt, wuchs er in einer bestimmten Stadt auf, in der er die einzelnen Bewohner [...], die Wege und Straßen der Stadt [...] durch das, was er von den übrigen Erkenntnisvermögen erfährt, ohne Einschränkungen kennt, so dass er sogar ohne Führer in der Stadt umhergeht und jeden, der ihm begegnet, sogleich erkennt. [...] Wenn ihm nun, nachdem er diese Stufe erreicht hat, seine Augen geöffnet werden und er die Sehkraft erlangt, dann wird er [...] nichts anders vorfinden, als es seiner Überzeugung davon entspricht, und nichts wird ihn täuschen [...], außer dass bei alldem zwei besonders wichtige Sachverhalte [...] neu für ihn sind: Erstens die gesteigerte Deutlichkeit und Helligkeit und zweitens die gewaltige Freude.
  • Ibn Ṭufail : Ḥayy ibn Yaqẓān (p. 108f. Gauthier)

    Ibn Ṭufail charakterisiert die unio mystica
    Wem eine solche Schau zuteil wird, dem widerfährt das völlige Verschwinden des Wesens seiner selbst (ḏāt nafsihi), die Auflösung und das Entwerden und ebenso das der übrigen vielen Wesen [...]. Es bleibt einzig das Wesen des Einen, des Wahren, des notwendig Seienden (al-wāḥid al-ḥaqq al-wāğib al-wuğūd).
  • Meister Eckhart : Deutsche Predigt 10 (11) (dt. Werke 1, p. 165, 4-12)

    Meister Eckhart über die Natur der Seele
    Diu sȇle hȃt zwei ougen, einz inwendic und einz ȗzwendic. Daz inner ouge der sȇle ist, daz in daz wesen sihet und sȋn wesen von gote ȃne allez mitel nimet: daz ist sȋn eigen werk. Daz ȗzer ouge der sȇle ist, daz dȃ gekȇret ist gegen allen crȇatȗren und die merket nȃch bildelȋcher wȋse und nȃch kreftlȋcher wȋse. Welher mensche nȗ in sich selber wirt gekȇret, daz er bekennet got in sȋnem eigenen smacke und in sȋnem eigenem grunde, der mensche ist gevrȋet von allen geschaffenen dingen und ist in im selber beslozzen in einem wȃren slozze der wȃrheit.
  • Meister Eckhart : Deutsche Predigt 9 (10), (Dt. Werke, 1, p. 150, 1-151, 2; 158, 4-7)

    Meister Eckhart über die Vernunftnatur Gottes und das Seelenfünklein in uns
    [1] Als wir got nemen in dem wesene, sȏ nemen wir in sȋnem vorbürge, wan wesen ist sȋn vorbürge, dȃ er inne wonet. Wȃ ist er denne in sȋnem tempel, dȃ er heilic inne schȋnet? Vernünfticheit ist der tempel gotes. Niergen wonet got eigenlȋcher dan in sȋnem tempel, in vernünfticheit, als der ander meister sprach, daz got ist ein vernünfticheit, diu dȃ lebet in sȋn aleines bekantnisse, in im selber aleine blȋbende, dȃ in nie niht engeruorte, wan er aleine dȃ ist in sȋner stilheit. Got in sȋn selbes bekantnisse bekennet sich selben in im selben.
    [2] Nȗ nemen wirz in der sȇle, diu ein tröpfelin hȃt vernünfticheit, ein vünkelȋn, ein zwȋc. [...] Gotes saelicheit liget an der ȋnwertwürkunge der vernünfticheit, dȃ daz wort inneblȋbende ist. Dȃ sol diu sȇle sȋn ein bȋwort und mit gote würken ein werk, in dem ȋnswebenden bekantnisse ze nemenne ir saelicheit in dem selben, dȃ got saelic ist.
  • Meister Eckhart : Deutsche Predigt 22 (23), (Dt. Werke 1, p. 382, 6-383, 7)

    Meister Eckhart über die Geburt des Wortes Gottes im Menschen
    Hie hȃn ich ȇwiclȋche geruowet und geslȃfen in der verborgenen bekantnisse des ȇwigen vaters, inneblȋbende ungesprochen. Ȗz der lȗterkeit hȃt er mich ȇwiclȋche geborn sȋnen einbornen sun in daz selbe bilde sȋner ȇwigen vaterschaft, daz ich vater sȋ und geber den, von dem ich geborn bin. [...] Jȃ, der in dém liehte ein holz saehe, daz würde ein engel und würde vernünftic, und niht aleine vernünftic, ez würde ein lȗter vernunft in der ȇrsten lȗterkeit, diu da ist ein vülle aller lȗterkeit. Alsȏ tuot got: er gebirt sȋnen einbornen son in daz hoehste teil der sȇle.